Voll verkackt ist halb gewonnen. Tom Limes

Voll verkackt ist halb gewonnen - Tom Limes


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was ganz offensichtlich die Voltzahl in ihren Adern steigerte, denn das Zucken wurde stetig krasser.

      »Hi, Chica, so früh am Morgen schon wieder am Abrocken?«

      Das Mädchen zog sich die schwarze Kapuze über den Kopf, ihre Hände waren geballt, die Knöchel weiß vor Anspannung. Und sie zuckte. Immer heftiger. Als ich dachte, sie würde im nächsten Moment explodieren, sprang sie plötzlich auf und bellte.

      Sie bellte. Wie ein Hund.

      »N-n-nur Tics!«, rief sie. Dann rannte sie mit hochrotem Kopf raus.

      Wow.

      Stille senkte sich über den Raum.

      Ich sah zu Tariq und vielleicht war es unklug oder gar gefährlich, schließlich sah der Typ, das wandelnde Gangsterklischee, groß und durchtrainiert aus, aber ich konnte einfach nicht sitzen bleiben.

      Meine Vernunft zog schon immer den Kürzeren, wenn es darum ging, mich zwischen sinnvoll und gefährlich zu entscheiden.

      Deshalb stand ich auch jetzt auf und marschierte geradewegs auf Tariq zu. »Hast du irgendwelche Probleme, du Vollidiot? Was für ein Wichser muss man sein, um ein Mädchen, das offensichtlich … äh … krank ist, so blöd anzulabern. Musst du dich so scheiße verhalten?«

      Der Typ schaute verblüfft und lächelte dann irritiert. »Was war daran scheiße? Das …«, seine Augenbrauen verwandelten sich in zwei tanzende Raupen, »… war Mister-Tariq-Style! Komm schon, Alter, das war nicht beleidigend. Gestern hab ich sie doch total verteidigt vor dem da.« Er deutete zu dem Bomberjackenglatzkopf.

      Ich konnte es echt nicht fassen. Wo war ich hier nur gelandet?

      »Kleiner Tipp.« Ich fixierte ihn mit schmalen Augen. »Dein Tariq-Style … also, da ist noch Luft nach oben. Viel Luft.«

      »Ach, wieder so ’n langweiliger Deutscher«, brummte Tariq genervt. »Ihr geht doch alle zum Lachen auf die Toilette.«

      »Wenn schon, dann in den Keller«, antwortete ich automatisch, aber der Vollpfosten hatte seine Ohren bereits mit einem Kopfhörer verdeckt.

      Als ich mich umdrehte und zu meinem Platz zurückgehen wollte, entdeckte ich das Mädchen wieder. Sie stand in der Tür zum Klassenzimmer und wenn ich das bisschen Gesicht, das die kleine, ovale Öffnung der Kapuze freigab, richtig deutete, lächelte sie mich fast dankbar an. Doch dann zuckte sie wieder und räusperte sich, als hätte sie ’nen Baumstamm in der Kehle.

      Ich wendete den Blick ab und glitt, schon jetzt völlig im Eimer, auf meinen Stuhl.

      Allmählich beschlich mich so eine Ahnung, warum es immer hieß, in Maßnahmen wie diesen fände man nur die absoluten Nieten.

      Liza

      2 Ich hasste mich dafür, dass Idioten wie dieser Tariq immer wieder solche heftigen Reaktionen bei mir auslösen konnten. Eigentlich schaffte ich es mittlerweile ganz gut, nichts auf dumme Sprüche zu geben – warum musste ich ausgerechnet heute so neben der Spur sein?

      Obwohl … vielleicht lag es auch daran, dass es im Grunde schon vorher echt blöd losgegangen war: gestern diese Einführungsveranstaltung, bei der keiner zugehört hatte. Und heute? Da saß ich schon kurz vor Schulbeginn voller Tatendrang im Klassenraum. Allein. Auch zum offiziellen Stundenbeginn war ich immer noch die Einzige. Ein paar Minuten später kam dann so ein Typ mit geflickter Brille und setzte sich an einen Einzeltisch. Ich hatte es mit etwas Small Talk probiert, doch er reagierte einfach nicht. Er saß da nur so rum und stierte auf das ramponierte Notizbuch, das er mittlerweile aus einer Plastiktüte gezogen hatte.

      Nach und nach kamen weitere Leute rein und ich spürte, dass mit jedem von ihnen eine neue Portion Unlust den Raum erfüllte, bis ich irgendwann dachte, ich kriege keine Luft mehr. Wie sollte ich denn hier irgendwas lernen, wenn ich als Einzige freiwillig in dieser Quali hockte? Natürlich hätte auch ich mir etwas Besseres gewünscht, als mit sechzehn Jahren so für meinen Hauptschulabschluss zu kämpfen, aber nach meinem Zusammenbruch in der Achten schien das hier die einzige sinnvolle Option zu sein.

      Jedenfalls hatte mich das gestern schon ziemlich runtergezogen. Nicht gut für meine Tics, denn jeder Hauch von Stress steigerte sie heftig. Dabei war es ja auch schon an normalen Tagen schwer genug, sie im Zaum zu halten. Stellt euch vor, ihr müsstet einen hyperaktiven, tonnenschweren Ackergaul am Strick umherführen, dann wisst ihr so ungefähr, wie viel Kraft es mich kostete. Eine Weile lang funktionierte das meist und auch jetzt gelang es mir, zumindest nicht ganz so wild herumzuzucken, doch als dieser Tariq mich ansprach, da ging irgendwie gar nichts mehr und es riss mich samt Ackergaul davon. Ich versuchte, es noch mit einer kleinen Erklärung zu retten, aber dann musste ich erst mal raus, um wieder ein bisschen runterzukommen.

      Luzifer – so habe ich dieses unnütze Etwas genannt, das mich kurz vor dem zehnten Geburtstag entdeckt und sich an mir festgekrallt hat. Erst war Luzifer noch damit zufrieden, mal meine Augen oder meinen Kopf zum Zucken zu bringen, aber irgendwann wollte er mehr. Er wollte aus mir kichern, schnalzen und bellen und je aufgeregter ich war, desto wilder trieb er es mit mir. In den siebentausend Gesprächsgruppen, die ich bereits besucht hatte, hieß es zwar immer: Du hast Tourette und nicht das Tourette dich, aber … ich empfinde das durchaus ein bisschen anders. Hilflos sah ich mit an, wie Luzifer alles verschlucken wollte, was ich mal war. Am Ende sah dann wirklich jeder nur noch Luzifer statt mich. Das war so grausam, dass ich vor über einem Jahr endgültig beschloss, die Einsamkeit meiner vier Wände dem permanenten Spießrutenlaufen in der Schule und draußen vorzuziehen. Fortan hockte ich meist auf dem Bett und ließ den Laptop auf dem Schoß zunehmend die Lücke füllen, die entstanden war, als selbst Mia, meine letzte und treueste Freundin aus Grundschulzeiten, ständig neue Ausreden fand, um sich nicht mehr mit mir treffen zu müssen. Vielleicht habe ich sie aber auch nur mit meiner immer öfter gruseligen Laune vergrault. Der Frust über Luzifer hatte mich zu einer meist angenervten, dummen Ziege werden lassen.

      Jetzt wieder meine Höhle zu verlassen, war deshalb Stress pur und damit ich mich nicht sofort aufs Neue blamierte, hatte ich die letzten Wochen hart trainiert, Luzifer zu bändigen. Ich hatte ihn um Ruhephasen angefleht, Entspannungskram gemacht, Wunderzeug geschluckt. Ich wollte nicht wegen der Blicke und Sprüche meiner Mitschüler eine weitere Schule verlassen. Und da Luzifers Bändigung zu Hause so gut funktionierte, hatte ich am Ende echt geglaubt, es könnte auch in der Maßnahme klappen. Wie naiv von mir.

      Nachdem Luzifer, der Herr meiner Tics, sich also dank Tariq direkt am ersten richtigen Tag unserer Qualifizierungsmaßnahme schon ausgetobt hatte, marschierte ich jetzt wieder zurück in den Klassenraum.

      So ein Schlabberklamottentyp stauchte gerade Tariq zusammen. Ob es da um mich ging? Das wäre ja eigentlich echt nett, andererseits brauchte ich keinen Beschützer. Das kriegte ich auch allein hin. So wie sonst auch.

      Als mein Möchtegernbeschützer zu mir schaute, musste ich dennoch das erste Mal lächeln. Er hatte wirre dunkle Locken, die sich aus seiner Wollmütze herauswanden. Aber diese knallroten Augen … der hatte wahrscheinlich schon heute Morgen eine komplette Hanfplantage inhaliert. Dass er wenig später mit dem Kopf auf seinem Rucksack einpennte, bestätigte diesen Verdacht. Schade eigentlich, aber solche Typen waren echt nicht mein Ding.

      Als dann Frau Knöpfle, tausend Entschuldigungen murmelnd, durch die Tür rauschte, waren endlich fast alle Plätze besetzt.

      Wie sie so dastand, in einem grünen Filzkleidchen, orangeschwarz gemusterter Strumpfhose und knöchelhohen Mary-Poppins-Schuhen, wirkte sie ein bisschen wie ein verlorenes Kind. Vielleicht lag das auch daran, dass sie so klein und zierlich war oder weil sie gerade sehr unsicher mit dem Amulett spielte, das an einem Lederband um ihren Hals baumelte. Ihre Lippen bewegten sich, doch der Lärm, den die anderen veranstalteten, überlagerte ihre dünne Stimme.

      Oje, Frau Knöpfle war die mit Abstand schüchternste Lehrerin, die mir je begegnet war. Das war für all die Klassenclowns hier bestimmt ein gefundenes Fressen. Ich hatte sofort Mitleid mit ihr.

      Doch auf einmal zog sie einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn mehrmals geräuschvoll auf ihr Pult krachen.

      »Wir


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