In all den Jahren. Barbara Leciejewski
müde. Finn schenkte unsere Gläser nach und erzählte von seiner Arbeit in New York. Von der SVA, der School of Visual Arts, und von dem Angebot, das er zwei Monate zuvor von Disney erhalten hatte, gerade, als er sich entschlossen hatte, zurückzugehen. Er hatte eine Riesenkarriere sausen lassen. Als ich ihn fragte, ob er das nicht bereute, schüttelte er den Kopf. Geld, Prestige, das bedeutete ihm nichts. Finn war mit ganzem Herzen Künstler. Er fand seine Befriedigung in ganz anderen Dingen.
„Als ich damals in deinem Gesicht gesehen habe, welchen Eindruck die Zeichnung von den Verliebten am Meer auf dich gemacht hat, als ich gesehen hab, dass dir schier die Worte gefehlt haben, da hab ich diese Befriedigung empfunden. Wenn ich einen einzelnen Menschen so berühren kann, dann ist das viel mehr als alles, was man mir dafür geben könnte.“
„Du hast das gemerkt?“, fragte ich gerührt.
„Natürlich“, sagte er.
Unsere Blicke trafen sich für Sekunden, verbanden sich und ließen sich wieder los.
„Und außerdem“, sagte er dann betont nüchtern und räkelte sich auf dem Sofa, „ich verdiene auch ohne Disney genug Kohle, ich kann mir diese coole Haltung leisten.“
„Ja, du bist ja sogar Wohnungsbesitzer“, sagte ich.
„Hausbesitzer, um genau zu sein“, ergänzte er.
„Wie bitte?“, rief ich aus. „Dir gehört das ganze Haus? Ich zahle meine Miete an dich?“
„An meinen Bruder und mich, genau genommen“, sagte er. „Wir haben das Haus von unserem Großvater geerbt.“
„Das ist ja …“ Ich wusste nicht, was es war. Doch dann stellte ich noch etwas fest: „Dann ist ja Frau Obermoser auch deine Mieterin. Eure Mieterin vielmehr.“
„Jaa“, grinste Finn. „Aber das weiß sie gar nicht.“
„Wieso weiß sie das nicht?“
„Du hast es doch auch nicht gewusst“, entgegnete er. „Aber lies mal deinen Mietvertrag, da steht klar und deutlich McGregor.“
„Das mach ich morgen“, sagte ich. „Woher kommt eigentlich der Name, das wollte ich dich schon immer fragen.“
„Mein Vater war Schotte. Ich bin in Schottland geboren, aber er ist gestorben, als ich ein Jahr alt war. Da ist meine Mutter mit ihren beiden Kindern wieder nach München gezogen. War einfacher für sie.“
„Ist dein Bruder viel älter?“
„Sechs Jahre. Und er ist viel vernünftiger als ich, kennt sich mit Geld und Darlehen aus und solchen Sachen. Ich glaub, er weiß sogar, wie die Börse funktioniert. Aber laut meiner Mutter sind wir wirklich Geschwister.“
„Wie heißt er?“
„Kevin. Heutzutage fällt der Name gar nicht mehr auf.“
„Kevin – Allein zu Haus?“, fragte ich amüsiert.
„Nein. Kevin hat Frau und Kind, wie sich das gehört.“
„Gehört sich das so?“, fragte ich.
„Für manche Menschen schon, für manche ist es einfach nur schön“, sagte er. „Muss aber nicht sein.“
„Nein, muss es nicht“, bestätigte ich.
„Und was ist mit deiner Familie?“, fragte Finn.
„Was soll mit meiner Familie sein?“, fragte ich ein wenig unwillig zurück.
„Sind die alle schon tot, leben sie auf einem anderen Planeten oder warum war heute keiner in Augsburg bei deiner Premiere.“
Ich schnaubte.
„Also? Tot anscheinend nicht, oder?“
„Ganz und gar nicht. Meine Eltern sind sehr lebendig. Lebenshungrig geradezu, da wird kein Fest ausgelassen. Außer Feste, die die Tochter betreffen. Oder den Sohn. Der ist genauso ins eigene Leben entlassen worden wie ich, nur dass er eine eigene Familie hat. Mit wechselnder Besetzung allerdings. Er war schon dreimal verheiratet und hat, wenn ich richtig gezählt hab, insgesamt vier Kinder. Mit der letzten Frau ist er noch zusammen. Glaub ich jedenfalls. Wir sind alle sehr eng, weißt du.“ Ich verdrehte die Augen.
„Mein Bruder ist übrigens auch sechs Jahre älter als ich. Ihm hab ich auch den Namen zu verdanken, weil er gerade eingeschult worden war und die Hauptpersonen in der Lesefibel waren seine Helden.“
„Hans, Heiner und Elsa?“ Finn schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. „Oh, mein Gott.“ Er lachte schallend.
„Nicht dass Elsa kein schöner Name ist, aber …“
„Aber es sollte bessere Gründe geben, sich für den Namen seines Neugeborenen zu entscheiden, richtig.“
„Elsa ist ein schöner Name“, betonte er.
„Es geht. Altbacken eben“, meinte ich.
„Jetzt kannst du ihn nicht mehr ändern, sonst ist dein erstes Autogramm nichts mehr wert“, erinnerte er mich.
Ich musste lächeln, als ich an die beiden aufgeregten Mädchen dachte.
„Ich kann’s noch immer nicht glauben, dass mir das alles passiert“, sagte ich. Ich leerte mein Glas und wir teilten uns den Rest der Flasche.
Ich stand auf und ging nach draußen auf die Dachterrasse. Es war atemberaubend. Man sah über die Dächer der Münchner Altstadt und, darüber wachend und hell erleuchtet, den Alten Peter und die Türme der Frauenkirche. Finn gesellte sich zu mir.
„Ich stand auf dem Empire State Building und hab diese Aussicht vermisst, weißt du?“, sagte er. Ich nickte.
Er sah mich an.
„Spielst du noch Saxophon?“, fragte ich.
„Klar!“, sagte er.
„Spielst du nochmal The Rose? Für mich?“
„Jetzt?“
„Du bist der Hausbesitzer und bevor jemand die Polizei verständigen kann, ist das Lied schon zu Ende.“
Er grinste breit, ging hinein und holte sein Saxophon.
Und dann spielte er über den Dächern von München The Rose – nur für mich.
An diesem Abend begann alles. Einfach alles. Mein neues Leben. Und vor allem die Freundschaft zwischen Finn und mir, obwohl der Grundstein dazu schon zwei Jahre zuvor gelegt worden war und es uns vorkam, als wären wir schon damals eng verbunden gewesen, auch wenn wir uns nur selten begegnet waren.
Es hatte im Übrigen tatsächlich jemand die Polizei verständigt, was vielleicht zu erwarten gewesen war, wenn man um drei Uhr morgens mitten in der Stadt im Freien auf einem Saxophon spielte, auch wenn man so gut spielte wie Finn.
Als sie eintraf, verschwand ich rasch in meiner eigenen Wohnung und hörte hinter dem Spion amüsiert, wie Finn von den beiden Polizisten eine Belehrung erhielt und Besserung gelobte.
Von diesem Tag an verbrachten wir fast jede freie Minute zusammen. Nicht dass wir viele freie Minuten gehabt hätten. Ich musste natürlich häufig nach Augsburg, hatte auch wieder jede Menge Studiotermine und Finn arbeitete sowieso ununterbrochen, wie ich feststellte. Aber wenn wir Zeit hatten, frühstückten wir zusammen, sahen uns am Abend gemeinsam Filme an oder gingen spazieren. Oder wir hingen einfach auf seiner Dachterrasse herum, redeten Blödsinn und lachten uns dabei tot. Jeder hatte den Wohnungsschlüssel des Anderen, geklingelt wurde eigentlich nur zur Ankündigung und diente vor allem Finn als Zeichen dafür, dass er sich schleunigst etwas anziehen sollte, falls er beim Malen gerade wieder einmal nackt war. Ihm wäre es ja egal gewesen, ob ich ihn so sah, aber mir nicht, auch wenn ich bereits alles wusste, was es da zu wissen gab.
Wir waren gern zusammen, hatten Spaß miteinander, konnten über alles reden, uns alles anvertrauen und wir verstanden uns auch ohne Worte.
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