Windmar. Ben Jansen

Windmar - Ben Jansen


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und es gab sogar einen kleinen Schuppen, in dem man sich umziehen konnte. Anscheinend kostete es keinen Eintritt. Niemand war zu sehen, und das Tor ließ sich ohne weiteres öffnen.

      „Leider sieht das Wasser nicht besonders sauber aus“, meinte Sophie und verzog ihr Gesicht. „Erinnerst du dich daran, wie schön das Haus an der Steilküste war? Im Meer zu baden, das hat Spaß gemacht.“

      Tatsächlich konnte man teilweise nicht einmal den Grund sehen, und Blätter schwammen an der Oberfläche. Aber Alexander hatte weniger Bedenken. „Ach was“, sagte er, „Das ist besser als im letzten Jahr, wo wir nirgendwo schwimmen konnten. Wenigstens vergessen wir so nicht noch alles, was Margaret uns beigebracht hat – und wir können uns in der Hitze abkühlen.“

      Auf einer Tafel waren Öffnungszeiten angeschrieben. „Das heißt, demnächst wird hier abgeschlossen“, sagte Alex und sah auf seine Armbanduhr. Sie hatte sogar Leuchtziffern, und Margaret hatte sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag gekauft. „Es ist gleich fünf Uhr.“

      „Wirklich?“, fragte Sophie. „Oh weh. Jetzt aber schnell!“ Sie zog Alexander am Arm. „Die Stunde ist fast um. Ich habe keine Lust, gleich am ersten Tag im neuen Haus Ärger zu bekommen. Und Margaret ist sowieso schon böse wegen dem Umzug – das wird nicht lustig. Wir müssen rennen.“ Alex ärgerte sich über sich selbst. „Verdammt! Das stimmt. Los geht’s.“ Und schon rannten die beiden los, die Straße zurück, durch die Gassen mit dem Kopfsteinpflaster und an dem lilafarbenen Haus vorbei. Endlich waren sie wieder in der Sackgasse, die zum Haus führte.

      Als sie völlig außer Atem im Hof anlangten, stand die Tür offen – von Margaret aber war nichts zu sehen. Sie musste in ihrem Zimmer sein. Alle Möbel waren bereits an ihrem Platz. Margaret hatte sogar die meisten ihrer Bücher schon wieder in die beiden Regale gestellt. Das tat sie immer als erstes, und sie hatte ihre eigene Methode. Je nach Sachgebiet wurden die Bücher alphabetisch nach Autoren sortiert. Das Haus sah fast schon bewohnt aus.

      „Glück gehabt“, wisperte Alex. Sophie hielt sich die Seite, und versuchte zu lächeln. Sie konnte nicht so schnell rennen wie er, aber trotzdem hatten sie es noch rechtzeitig nach Hause geschafft.

      3 Die Kinder

      Die Kinder waren eigentlich keine Kinder mehr; zumindest betrachteten sie sich selbst nicht als solche. Sie sahen nicht aus wie Geschwister, und nach allem, was sie wussten, waren sie das auch nicht. Dennoch hatten sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen verbracht, und wenig Erinnerung an das Vorher. Alex sah manchmal noch den langen, dunklen Gang in dem Waisenhaus vor sich, und Sophie erinnerte sich an das schlechte Essen an dem großen Tisch mit anderen Mädchen. Das alles aber war lange her, und oft schien es, als ob sie schon immer mit Margaret gelebt hätten.

      Alexander war vierzehneinhalb; groß und kräftig für sein Alter, mit braunen Augen und kurz geschnittenen Haaren von undefinierbarer Farbe – irgendwo zwischen blond, braun und grau, je nach Tageslicht. Er las viele Bücher, und es machte keinen Unterschied für ihn, von was sie handelten. In dem neuen Haus würde er vielleicht sogar lesen können, nachdem Margaret schon Licht aus befohlen hatte – weil sie ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß hatte, würde sie die Taschenlampe unter seiner Decke hoffentlich nicht bemerken. Handwerklich geschickt war es normalerweise er, der Reparaturen und die anstrengenden Arbeiten in Haus und Garten ausführen musste. Das war oft schwer, aber es gefiel ihm, dass er dabei ernst genommen wurde. Er wusste, dass Sophie ihn darum beneidete, wenn Margaret ihn die Arbeit so machen ließ, wie er es für richtig hielt.

      Sophie war kleiner, ein zartes Mädchen von fast vierzehn Jahren mit schmalen, fast schwarzen Augen. Die langen, dunklen Haare hatte sie immer zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden, weil Margaret es so wollte. Am liebsten trug sie kurze Hosen wie Alex, aber das war ihr nicht oft erlaubt. In der Schule musste sie die Uniform tragen, und zuhause gab es einfache Kleider, kurz im Sommer und lang im Winter, mit einer Strickjacke, wenn es kalt war. Sophie mochte Tiere, und alle Tiere mochten Sophie. Gerne hätte sie eine eigene Katze gehabt; oder vielleicht einen kleinen Hund, den sie morgens und abends ausführen konnte. Bisher aber hatte Margaret dies nie erlaubt. Auch sonst fühlte sich Sophie manchmal schlechter behandelt als Alex, denn sie musste Margaret beim Kochen, Waschen und den anderen Haushaltsarbeiten helfen – und niemals schien es gut genug, was sie tat.

      Zwischen Alexander und Sophie gab es keine Geheimnisse. Sie standen sich so nahe, wie es eigentlich nur richtige Geschwister können, und beide wussten immer genau, wie sich der andere Teil fühlte. Sie teilten alles, und halfen einander, wo sie konnten. Oft genügte nur ein Blick zwischen ihnen, um Alexander von einer Widerrede abzubringen oder Sophie aufzumuntern.

      Mit anderen Kindern aber redeten beide nicht viel. In den letzten Jahren waren sie jeweils auf getrennte Schulen gegangen; Sophie nur mit Mädchen, und Alex auf eine reine Jungenschule. Beide waren mit sich und auch ohne viele Freunde zufrieden. Jedes Jahr zogen sie an einen anderen Ort, und so war ohnehin zu wenig Zeit, um lange Freundschaften aufzubauen. Beide waren Außenseiter, die sich in den Schulpausen abseits hielten. Weil sie aber überlegt und selbstbewusst sprachen, waren sie respektiert genug, um von den jeweiligen Mitschülern akzeptiert und in Ruhe gelassen zu werden. Sophie hatte ihre letzte Schule gemocht, und wenn sie auch nicht viel an den jeweiligen Moden und Gesprächen und kleinen Intrigen teilnahm, so genoss sie, mit anderen Mädchen zusammen zu sein und diese zu beobachten. Die meisten Jungen in seiner Klasse bewunderten Alexander, weil er nicht viel redete, selbst dann beherrscht blieb, wenn andere Streit suchten oder ein Lehrer ihn härter anfasste, und weil er im Sport ausdauernd und kräftig war.

      Margaret war nicht mehr viel größer als Alexander, weil er so schnell gewachsen war. Es war schwer zu schätzen, aber sie konnte nicht viel älter sein als vielleicht dreißig Jahre. Anders als für die Kinder wurde ihr Geburtstag nie gefeiert. Sie war schlank und sah sportlich aus, mit offenen braunen Haaren, die nie länger wurden als bis zu ihrem Kinn. Sie war sehr schön. Aber sie schminkte sich nie, war einfach gekleidet und verhielt sich auch sonst ganz anders als andere Frauen, die sie kannten. Und natürlich – so hatten die Kinder schnell herausgefunden, schon vor langer Zeit, als sie noch jünger waren – hatte Margaret auch Augen auf der Hinterseite des Kopfes. Niemals entging ihr auch nur die kleinste Kleinigkeit, die um sie herum passierte. Oftmals wusste sie sogar, was in anderen Zimmern des Hauses vor sich ging, ohne auch nur aufzusehen. Überhaupt war es schwer, irgendetwas vor ihr zu verheimlichen.

      Margaret hatte eine Vorliebe für feste, flache Schuhe, die sie bei jedem Wetter trug. Sie lachte selten und war sehr streng. Wer aus der Reihe tanzte, hatte bei Margaret nichts zu lachen – und es war egal, ob das die Kinder waren, Nachbarn oder ein unfreundlicher Ladenbesitzer. Wenn Alexander und Sophie auch meist keine wirkliche Angst vor ihr hatten, so wussten sie es besser, als ihr zu widersprechen oder nicht zu gehorchen.

      Gleichzeitig aber sorgte Margaret gut für sie. Zwar lebten sie relativ einfach, aber sie hatten immer neue, gute Kleidung, reichlich Essen und alle Bücher, die sie haben wollten. Wenn die Kinder krank waren, wurde nicht an Medikamenten gespart, und wenn nötig, kam der Arzt sogar direkt ins Haus. Margaret versorgte sie dann mit Tee, und kochte den beiden ihre Lieblingsessen.

      Überall, wo sie lebten, meldete Margaret sie bei guten Schulen an – selbst, wenn sie dahin täglich weite Strecken mit dem Bus fahren mussten. Günstig konnten die Schulen nicht sein. Und Margaret ermunterte sie, ihr alles zu erzählen, was sie dort erlebten. Sie nahm Teil am Leben der Kinder. Die anderen Kinder auf diesen Schulen kamen normalerweise aus wohlhabenden Familien; von Gesprächen wussten die Kinder, dass die Eltern Anwälte oder Geschäftsführer waren, auf jeden Fall aber einen angesehenen Beruf hatten.

      Bei ihnen wurde niemals über Geld gesprochen. Die Kinder wussten nicht, ob überhaupt und was Margaret arbeitete. Meist war sie jedenfalls den ganzen Tag zuhause. Hin und wieder schrieb sie Briefe in ihrem Zimmer, und abgesehen von der wöchentlichen Fahrt in die Stadt verließ sie das neue Haus eigentlich nur, um diese in den Briefkasten im Dorf zu werfen. Dabei bekam sie selbst nur selten Post, und normalerweise waren es Rechnungen.

      Ganz am Anfang hatten sie in einer Wohnung in einer großen Stadt gelebt. Einige Treppen hoch, nur mit zwei Zimmern und einem kleinen Bad; die Küche hatten sie mit einer anderen Familie geteilt. Alex und Sophie erinnerten sich an den schmutzigen Hof, in dem


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