Könnte schreien. Carola Clever

Könnte schreien - Carola Clever


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Empfangsdame tätig und heiratete ihren Kollegen, Fernando Garcia Diaz, einen Mexikaner. Sie bekamen vier Kinder.

      Sie berichteten in Briefen über das interessante Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die ungewöhnliche, abwechslungsreiche Landschaft, die wirtschaftlichen Aussichten und Chancen. Martin und Ella sollten ihrer Meinung nach auch auswandern. Beide würden sie unterstützen, mit Rat und Tat zur Seite stehen. Martin könnte dort schneller Geld verdienen und die Lebensbedingungen wären erfreulicher als in Deutschland.

      Abends im Bett flüsterte Martin Ella in Ohr: „Wusste gar nicht, dass Otto so ein Angeber ist!“

      „Wie meinst du das?“, entgegnete Ella.

      Martin schnaubte. „Diese amerikanischen plattfüßigen Hühnerwürger, was können die schon auf die Beine stellen! Wer ist denn damals ausgewandert? Alle, die hier nichts werden konnten. Gesindel, Gesocks. Viele, die Dreck am Stecken und keinen Pioniergeist hatten, aber gehen mussten. Lächerlich, wer will sich denn mit solchen Schwachköpfen umgeben?“

      Ella: „Wieso, hört sich doch alles gut an, du hast doch nur Flugangst und bist eifersüchtig auf ihre Erfolge. Außerdem müsstest du dich auf neue Situationen und die Sprache einstellen, dafür bist du viel zu unflexibel.“

      Martin verzog sein Gesicht zu einer Grimasse: „Da kann ich doch nur lachen, das wirst du noch sehen, wie flexibel ich bin.“ Damit war das Gespräch für ihn beendet. Beleidigt drehte er ihr den Rücken zu und tat so, als ob er schlief. Ihre Vorhaltungen waren ein zusätzlicher Anreiz für Martin. Er wollte es sich und ihr beweisen. Seine Zukunft wollte er noch erfolgreicher gestalten als bisher.

      Nüchtern und mit größtmöglicher Distanz betrachtet, war Martin ein Freidenker. Religion war Opium fürs Volk. Nichts für ihn. Er sah sich als überzeugter Atheist, hatte so seine spekulativen Thesen zum Leben, zur Politik und zum Sport. Oft versuchte er mit seiner Einstellung, die Unterhaltungen zu würzen oder gegensätzliche Meinungen zu provozieren. Nein, an Gott glaubte er wirklich nicht, noch akzeptierte er jedwede Form religiös geprägten Verhaltens. Schon Nietzsche hatte die Religion an der Garderobe abgegeben und der musste es ja wohl wissen. Esoteriker und Zeugen Jehovas waren für ihn die kompletten Spinner. Die mussten auf Drogen sein, lebensfremd und verhaltensgestört. Seine Mutter Frieda, selbst eine starke, geistig unabhängige, aber verbitterte Frau, verehrte Rosa Luxemburg. Martin, politisch eher rechts, war wie die Fahne im Wind. Er wählte die Partei, die ihm die meisten Vorteile und größtmöglichen steuerlichen Freiraum verschaffte. Was Frauen betraf, war er nicht sonderlich wählerisch. Sie sollten gut aussehen. Sein Motto: „Das Auge isst immer mit!“

      WIEDER EINE VERÄNDERUNG

      Bald schon bemerkte Martin bei Ella eine Veränderung. Nie zuvor hatte Ella es gewagt, seine Kompetenz zu untergraben. Doch beim letzten Streit wagte sie den Ausspruch: „Du bist ein chauvinistisches Schwein.” Das hatte er noch nie in dieser Form von ihr gehört. Auch ihre Ausdrucksweise war ihm fremd. Ob sie wohl etwas merkte? Auf jeden Fall hatte ihr Therapeut keinen guten Einfluss auf sie. Er musste sie beobachten. Ihn nervten diese ersten seelischen Anzeichen von Depressionen. Sie klagte über Schlafstörungen und unregelmäßigen Herzschlag. Er beobachtete Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, blinden Aktionismus, aggressive Ausbrüche, Reiz- und Kränkbarkeit. Seit sie diesen Seelenklempner aufsuchte, war der Umgang mit ihr schwierig geworden. Ihm wurde klar, er musste vorsichtiger agieren, um nicht aufzufallen.

      Kurz darauf kaufte Ella in der benachbarten Gärtnerei eine große Pflanze. Der Tipp kam von ihrer Freundin A-nita. Sie pflanzte sie an exponierter Stelle gleich neben der Terrasse bei den Rosenbeten ein. Martin war begeistert von diesem zwei Meter hohen Strauch. Beim Frühstück streute sie den Mönchspfeffersamen vom besagten Strauch in seinen Haferbrei. Martin hasste dieses Vogelfutter, aß es trotzdem, weil er etwas für die Gesundheit tun wollte.

      Ella servierte den Brei mit einem süffisanten Lächeln: „Hier, Hasilein, damit du groß und stark wirst!“

      Martin: „Ne anständige Stulle mit dick Wurst drauf wäre mir lieber.“

      Innerlich lachte Ella schallend. Mönchspfeffer. Der Name verwies bereits auf die Wirkung, die dieser Pflanze zugesprochen wurde. Der lateinische Name Agnus für unschuldig, Castus für keusch. Die Früchte hatten eine libidovermindernde Kraft. Bei großzügiger Dosierung bewirkten sie jedoch das Gegenteil. Leider war Ella dieser kleine, aber wichtige Umstand nicht bekannt. Erfolglos verfütterte sie es reichlich.

      Anita besuchte Ella wöchentlich. Diesmal stritt sie mit Ella heftig.

      „Wie kannst du nur mit diesem Lügner und Heuchler noch schlafen? Um den häuslichen Frieden herzustellen, bietest du ihm Sex. Dein Verhalten kommt einer Nutte gleich. Die bietet Sex und vorgetäuschte Gefühle, aber nimmt wenigstens Geld dafür. Du, liebe Ella, manipulierst ihn und täuschst Gefühle vor, die du so gar nicht hast. Wo ist dein Rückgrat, dein Stolz? Wo ist dein Selbstwert geblieben? Deine Rache ist wirklich eine feige Form der Trauer! Hallo? Hörst du, was ich sage?“

      Ella verteidigte sich. „Ich habe Angst vor seinen Gewaltausbrüchen, vor einer Veränderung. Außerdem habe ich Kinder, ein schönes Heim, ein Auto, fahre zweimal im Jahr in Urlaub. Wir tragen schöne Kleidung und haben satt zu essen. Es heißt doch, man kann nicht alles im Leben haben. Alles hat seinen Preis. Das Leben besteht doch immer wieder aus Kompromissen. Manchmal sind eben auch faule dabei.” Ella dachte an Joachim und die verpasste Gelegenheit.

      Anita: „Ja, super, toller Preis. Du verwechselst Annehmlichkeiten, Geld und Macht mit Liebe. Wie dämlich ist das denn? Hoffentlich kriegst du noch mal die Kurve. Ich staune, Ella, wie du das aushältst. Ich könnte so nicht leben.

      Alle vier Wochen kamen Ellas Freundinnen zum Kaffeeklatsch. Ella hatte schon Tage vorher das Haus auf den Kopf gestellt, alles poliert, was sich polieren ließ. Nichts stand mehr am gewohnten Platz. Jedes Staubkorn wurde mikroskopisch genau von jedweden Gegenständen eliminiert. Fensterputzen, Gardinenwaschen, Teppichfransenstriegeln, den Boden auf Hochglanz putzen: Ella ließ keine noch so kleine Ecke aus.

      Warum war sie so eifrig? War es, um übler Nachrede wegen eventueller Schlampigkeit vorzubeugen? Diente es als Meditation oder gar als Ablenkung von ihren Sorgen und Nöten? Wurde innere Wut damit verarbeitet? Spiegelte die äußere Unordnung ihre innere Unordnung wider? Sie wusste es nicht. Entsetzt dachte sie an einen Zwischenfall: In einem Anflug von Wut über die Unordnung im Kinderzimmer hatte sie das Fenster geöffnet und alle unaufgeräumten Spielsachen, Kleidung und Schuhe aus dem Fenster geworfen. Nach einer Standpauke mussten die Kinder alles fein säuberlich wieder einsortieren. Peinlich, aber wirkungsvoll, entschied Ella. Die Kinder waren für sie wie Rohlinge und brauchten Schliff, bevor man sie ins Leben entlassen konnte, um mündige Bürger zu werden.

      Erst als alles zu ihrer Zufriedenheit glänzte und blitzte, konnte ich sie sich in den Sessel fallen lassen und höchst zufrieden alle Gegenstände in ihrem Blickfeld nochmals akribisch begutachten. Stolz präsentierte Ella dann ihr Heim.

      In dieser Frauenrunde wurde heftig diskutiert. Sie kannten sich alle seit Jahren. Sie waren eine eingeschworene Truppe, deren Vertraulichkeiten nie die Öffentlichkeit erreichten. Meist sprachen sie über Probleme in der Partnerschaft. Andere Themen kamen auch zur Sprache.

      Nur Ella hatte eine Maske auf. Wollte wie Persil, rein und unbefleckt, flatternd am Himmel stehen. Wollte um ihr angeblich problemloses Leben beneidet werden. Spielte die Glückliche, Zufriedene, Beneidenswerte. So wollte sie wahrgenommen werden. Vor jedes Gedeck legte sie einen Spruch: „Beziehung ist wie ein blühender Garten. Einer ist der Garten und der andere der Gärtner.“ Zustimmendes Gelächter der Mädels! Jede nahm ihren gewohnten Platz ein. Jede hatte ihr Thema, das sie belastete. Bald kreiste das neue alte Thema in der Runde, um wieder ausgiebig besprochen zu werden.

      Erika war als Dreijährige von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben worden. Sie wuchs bei einem alten kinderlosen Ehepaar auf. Der Ziehvater liebte sie, die Ziehmutter war herrschsüchtig und streng, ließ übellaunig Erikas klägliches Dasein zur täglichen Tortur werden. Ingeborg war seit sechs Jahren trocken. Sie hatte ihre Not, eine verflossene Liebe und eine böse Krankheit im Alkohol versenkt. Die Anonymen Alkoholiker und ein evangelischer Seelsorger hatten sie wieder auf die Spur


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