Willst du mit mir gehen, Herz?. Aurelia Hack
Mal, wenn ich meine innere Stimme zum Wohle anderer Menschen übergangen hatte und den Bedürfnissen und Wünschen meines Körpers, Geistes und meiner Seele keine Beachtung geschenkt hatte, das Mitgefühl mit mir selbst immer mehr verkümmerte. Folgende Sätze sagte ich mir viel zu oft:
Ach, stell dich nicht so an. So schlimm sind deine Kopfschmerzen doch nicht, du nimmst einfach eine Aspirin, dann geht das schon wieder.
Jetzt reiß dich zusammen. Schau dir doch dein Leben an. Dir geht’s doch gut. Was bist du denn jetzt traurig? Gibt doch keinen Grund dafür.
Schlafen und dich entspannen kannst du doch auch noch am Wochenende. Sag deinen Freunden nicht ab. Das wird sie nur verärgern.
Jedes Mal überging ich mit diesem inneren Monolog mich selbst.
Der Blick in meine Seele war sehr schmerzhaft. Es tat weh, zu erkennen, dass ich mein Inneres durch Perfektionismus in eine trostlose Ödnis verwandelt hatte, zu der ich keinerlei Bezug mehr hatte. Ich versprach mir selbst, mich ab sofort gut um mich zu kümmern und alles dafür zu tun, damit ich nie wieder so einen Zusammenbruch erleiden müsste.
Den Samen des Selbstmitgefühls wachsen lassen
Das war jedoch leichter gesagt als getan. Wo fange ich an, wenn ich mir selbst jahrelang kein Gehör geschenkt hatte? Wie kann ich wieder eine gute Beziehung mit mir selbst führen? Wie praktiziere ich Selbstmitgefühl? Alles Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Ich wusste nur, dass es nicht leicht sein würde und Zeit bräuchte.
Auf der Suche nach Antworten begann ich Bücher, Artikel und Studien zum Thema Selbstliebe und Selbstmitgefühl zu lesen. Bei meiner Lektüre stellte ich fest, dass es „zum Glück“ bereits einige Menschen vor mir gab, die sich teils aus eigenen Erfahrungen, teils aus wissenschaftlichem Interesse mit diesen Themen beschäftigt hatten und ich keineswegs die Einzige war, die ihren Weg zurück zu einer liebevollen Beziehung mit sich selbst finden wollte. Ich ließ mich auf die verschiedensten Möglichkeiten ein, um den Samen des Selbstmitgefühls endlich in mir wieder wachsen zu lassen.
So erstellte ich zunächst eine Übersicht mit all meinen täglichen und wöchentlichen Aktivitäten und Aufgaben und fragte mich bei jedem einzelnen Punkt auf dieser Liste:
Bringt mir das Freude oder raubt es mir Energie? Würde ich diese Aufgabe immer noch erledigen bzw. dieser Tätigkeit weiterhin nachgehen, auch wenn ich von meinem Umfeld keinerlei Reaktion darauf bekommen würde?
Mittels dieser zwei Fragen konnte ich schnell sehen, wie erschreckend groß der Anteil in meinem Leben war, der dem reinen Funktionieren unterworfen war. Es gab nur wenige Bereiche in meinem Leben und Momente im Alltag, die mich tatsächlich glücklich machten und mir Erholung schenkten.
Dieses fehlende Gleichgewicht wollte ich wiederherstellen und beschloss, täglich mehr Freude in mein Leben fließen zu lassen, indem ich mir ganz bewusst etwas Gutes tat. Zunächst war es für mich aber ein absolut komisches Gefühl, jeden Tag schöne Aktivitäten einzuplanen, da sich in diesen Momenten immer gern die kritische Stimme in mir meldete und sagte:
Das hast du dir doch gar nicht verdient. Du hast doch nichts geleistet. Wofür willst du dich belohnen? Oder: Erst erledigst du alle To-Do’s und wenn du dann noch Zeit hast, dann kannst du das machen, worauf du Lust hast.
Obwohl ich mich nach jeder angenehmen Aktivität stets glücklich und erholt fühlte, ließ mein innerer Kritiker nicht locker. Ich musste immer wieder diese Stimme sanft, aber bestimmt zur Seite schieben. Denn ich wusste, wenn ich auf sie hören würde, wäre das der erste Schritt zurück in mein altes Leben voller Stress und Traurigkeit.
Stattdessen versuchte mich selbst mit dem liebevollen Blick meiner besten Freundin zu sehen. Durch diesen Perspektivwechsel sah ich oft klarer, dass ich mich selbst sabotierte.
Nur ich muss mich mögen
Um mir selbst zu zeigen, wie wichtig ich mir war, und um meinem inneren Kritiker Einhalt zu gebieten, fing ich an, mir täglich kleine und wöchentlich größere Me-Dates in meinen Kalender einzutragen und diese Zeitfenster dann auch wirklich regelmäßig für mich zu nutzen. Mit jedem dieser Dates, auch wenn es nur eine fünfminütige Meditation war, wurde die kritische Stimme schwächer und meine Selbstliebe wuchs.
Zudem fing ich an, auf meine Ressourcen zu achten und Aktivitäten, die mich Kraft kosteten und keine Freude brachten, langsam in meinem Alltag zu reduzieren oder sogar vollständig zu streichen.
Ich lernte, in meinem privaten Umfeld Nein zu sagen und stellte fest, dass die meisten meiner Freunde dadurch nicht wütend wurden oder enttäuscht von mir waren, sondern eher Verständnis für meine Absage zeigten. Wow! Was für eine Erkenntnis. Stück für Stück versuchte ich anschließend, auch in meinem beruflichen Alltag Grenzen zu setzen, zusätzliche Aufgaben abzulehnen und aufzuzeigen, dass meine Kapazitäten und Ressourcen begrenzt waren. Obwohl ich bei meinen Kollegen durch mein Verhalten nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik und Unverständnis stieß, versuchte ich immer mein eigenes Wohlbefinden im Blick zu behalten. Es dauerte mehrere Monate, bis ich auch hier einen Wandel spüren konnte und ich von den meisten Kollegen für meine Entscheidungen und damit verbundenen Absagen an zusätzliche Projekte akzeptiert wurde.
Durch die zahlreichen Veränderungen in meinem Leben und ein von mir selbst entwickeltes ganzheitliches Konzept konnte ich letztendlich meine Depressionen überwinden und wieder in Einklang mit meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele gelangen.
Und heute? Heute gehe ich weiterhin behutsam und liebevoll mit mir um. Auch wenn es natürlich Zeiten gibt, in denen ich Gefahr laufe, wieder in meinen Funktionieren-Modus zu fallen. Wieder zum programmierten Roboter zu mutieren.
Doch ich habe gelernt, auf mich zu achten und sehr bewusst mit meinen Gedanken, Gefühlen und körperlichen Signalen umzugehen. Ich nehme mir ganz bewusst Auszeiten, höre in mich hinein und suche eine Aktivität, die mir guttut.
Ich lese einen Roman meiner Lieblingsautoren Haruki Murakami oder T.C. Boyle, nehme ein heißes Bad, gehe mit meinen Hunden spazieren, koche mir etwas Leckeres, schaue mir im Kino einen schönen Film an oder gönne mir eine Massage. Auch versuche ich eine gesunde Balance zwischen Anforderungen und Erwartungen im Außen und meinen eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Ressourcen zu halten. Im Alltag halte ich immer wieder inne und höre bewusst in mich hinein:
Wie fühle ich mich gerade?
Wie geht es mir?
Was könnte ich jetzt in diesem Moment tun, um mir selbst eine kleine Freude zu machen?
Ich habe erkannt, dass Selbstliebe und Selbstmitgefühl nicht nur die Schlüssel zu meiner Gesundheit sind, sondern die Essenz für ein glückliches Leben darstellen.
Heute möchte ich nicht mehr perfekt sein. Heute muss mich nicht mehr jeder Mensch mögen. Heute ist es mein Ziel, jeden Tag ein Stück mehr meine eigene beste Freundin zu werden und in tiefer Freundschaft mit mir selbst zu leben.
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