Fixin. Rayton Martin Villa
Der strahlend weiße, schnee- und eisbedeckte Gipfel des Gurla Mandhata stach sechzig Kilometer weiter südlich jenseits der Hochebene aus der graubraunen Landschaft mit dem dunkelblauen Himmel hervor. Er war der höchste Berg der Region und damit der letzte, dessen Gipfel noch Reste eines Gletschers trug. Auf allen Bergen mit Höhen von weniger als 7.400 Metern waren diese bereits vollständig abgeschmolzen.
Darchen lag am Fuße des Kailash, dem für Hindus und Buddhisten heiligen Berg. Es war seit Jahrhunderten der Hauptort für Pilger, die sich von dort aus auf die Wanderung rund um den Berg begaben und auf diese Weise Erleuchtung und Erlösung von ihrem Leid suchten.
Vor der Klimakatastrophe hatte sich dessen schneebedeckter Gipfel einsam von den braunen und neben ihm monoton wirkenden Bergen seiner Umgebung abgehoben. Aus der Nähe oder von der vorgelagerten Hochebene aus betrachtet musste er wegen seiner Pyramidenform wie ein hell strahlender Kristall ausgesehen haben. In den Augen der Menschen konnte er daher nur ein von Göttern erschaffenes höheres Wesen sein. Die tibetischen Buddhisten, die Hindus sowie auch die Anhänger einiger anderer Religionen wie der Bön-Mythologie, verehrten ihn bis heute als heiligen Berg, auch wenn er diesen einzigartigen Anblick wegen des fehlenden Eises inzwischen nur noch an wenigen Tagen bot, wenn Schnee gefallen war.
Aus Respekt vor den religiösen Gefühlen der Gläubigen durfte er von niemandem bestiegen werden. Die chinesischen Behörden vergaben aus diesem Grund keine Genehmigungen. Die Attraktivität des Kailash war allerdings sowohl für Bergsteiger als auch für neue Anhänger des Buddhismus nicht mehr so groß wie zu den Zeiten, als er noch einen eisbedeckten Gipfel besaß. Für viele hatte ihn heute der Gurla Mandhata in seiner religiösen Bedeutung abgelöst, der wegen seines um über 1.000 Meter höheren Gipfels als einziger Berg der Umgebung noch eine Eiskappe besaß. Für dessen Besteigung war eine Genehmigung problemlos zu bekommen, da in der neuen religiösen Strömung die Vorstellung herrschte, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des Klimas darin bestand, den beschwerlichen Aufstieg zum einzigen noch vorhandenen schnee- und eisbedeckten Gipfel auf sich zu nehmen und damit den Göttern zu zeigen, wie wichtig ihnen der Erhalt des Eises und damit des Klimas sei. Die konservativen Anhänger des Buddhismus und Hinduismus lehnten diese neue Glaubensrichtung natürlich ab, nicht nur weil die Besteigung extrem aufwendig und wegen der enormen Höhe sehr gefährlich war. Sie kam damit nur für ganz wenige Gläubige überhaupt in Frage. Sie verwiesen auch auf die alten Legenden. Durch die Aufwertung des Gurla Mandhata sahen sie sich zurückgesetzt und die Anhänger des konkurrierenden Böen gestärkt.
Seit einigen Jahren trafen sich in Darchen immer mehr Anhänger dieser neuen religiösen Strömung. Es waren insbesondere jüngere Menschen, in der Hoffnung, damit Erleuchtung für sich und die Verursacher der Klimakatastrophe zu finden und vielleicht doch noch die völlige Zerstörung der Lebensgrundlagen zu verhindern.
Die Klimasituation hatte sich in den letzten Jahren weltweit dramatisch verschlechtert. Im Jahr 2040 waren bereits die ersten Küsten großflächig untergegangen. Holland und große Teile Norddeutschlands existierten schon nicht mehr. Hamburg musste 2043 aufgegeben werden. Bangkok versank ebenfalls und wurde 2042 von Taifun Meng und der damit verbundenen Flut endgültig zerstört. In Kalifornien gingen San Francisco und Stockton immer mehr im Pazifik unter. Tianjin in China war bereits zur Hälfte vom Meer überflutet und gab so einen Vorgeschmack auf das, was in einigen Jahren auf die Hauptstadt Jing-Jin-Ji, das alte Beijing, zukommen würde. Auch das Nil-Delta in Ägypten und dessen Hauptstadt Kairo waren bereits nicht mehr bewohnbar. Millionen Menschen waren weltweit auf der Flucht in hochgelegene Gebiete.
Weil sie keine Möglichkeiten fanden, die offensichtlich bevorstehende völlige Zerstörung ihrer Welt zu verhindern, flüchteten sich viele Menschen in Religionen oder andere spirituelle Welten.
Auch Laura war auf diese Weise zur Buddhistin geworden. In ihrer frühen Jugend war sie nie besonders interessiert gewesen an spirituellen Dingen, obwohl sie sich auch damals schon große Sorgen um ihre Zukunft gemacht hatte. Die wetterbedingten Katastrophen beherrschten schon damals zunehmend die Medien, die Gespräche und das Handeln der Menschen. In den letzten Jahren hatte sich die reale Situation aber so verschlechtert, dass sie in panischer Angst vor einer weiteren Zuspitzung Hoffnung in dieser alten Lehre suchte. Deren Ziel war es, das Wesen der Menschen zu veredeln, damit diese dadurch ein besseres Leben erlangen konnten. Negative Eigenschaften wie Gier, Neid und Unwissenheit sollten die Menschen durch die Lehren Buddhas ablegen können. Genau diese menschlichen Schwächen waren nach Lauras Überzeugung die Hauptgründe für die Entstehung der Abwärtsspirale gewesen, in der sich die Welt heute befand. Die Lehre Buddhas erschien ihr daher das einzig richtige Mittel zu sein, um die totale Zerstörung der Lebensgrundlagen zu verhindern. Um ihren Beitrag dazu zu leisten, war sie mit ihrem Mann Matteo aus Deutschland nach Nepal gefahren. In Darchen hatten sie die beiden Freunde und Forschungskollegen ihres Mannes aus Pakistan, Awais und Fahad, getroffen und sich zwei einheimische Guides genommen.
Matteos Freunde waren zwar keine Anhänger des Buddhismus oder anderer Religionen, aber ebenso begeisterte Bergsteiger. Für Laura war die Besteigung des Gurla Mandhata jedoch vor allem ein spiritueller Akt.
Weniger religiöse Zeitgenossen zogen es vor, sich auf die Suche nach den Hauptverursachern der Klimakatastrophe zu machen. Überall auf der Erde strengten sie Prozesse gegen diejenigen an, die in ihren Augen schuld daran waren. Vielen ging es dabei nur um die Sache an sich, andere wollten vor allem finanzielle Entschädigungen erstreiten für wetterbedingte Schäden und Verluste. Die vernichteten Werte waren aber derart groß, dass nur die wenigsten Geschädigten entsprechenden Schadenersatz bekamen. Die geforderten Strafmaße wurden im Laufe der Jahre und den größer werdenden Schäden immer höher. Zu Beginn der Klagewelle, etwa um das Jahr 2040, war auch in schweren Fällen nur Sachbeschädigung Gegenstand der Anklage. Inzwischen war aber die weltweite Situation schon so schlimm, dass die als Hauptverursacher angesehenen Personen des Ökozids angeklagt wurden, also der völligen Zerstörung der Lebensgrundlage aller Menschen.
Parallel dazu wurde immer häufiger auch der noch weitergehende Vorwurf der fahrlässigen Tötung erhoben, der in seiner ultimativen Form als Anthropozid bezeichnet wurde. Mit diesem neu eingeführten Straftatbestand war die Vernichtung der gesamten Menschheit gemeint. Verfahren mit dieser Anklage wurden nicht mehr von lokalen Gerichten entschieden, sondern fanden vor dem Internationalen Strafgerichtshof statt. Dieser hatte früher seinen Sitz in Den Haag in Holland gehabt. Nach dem Untergang des Landes hatte man ihn zunächst nach Genf in die Schweiz verlegt, er war aber schon bald auf Druck Chinas nach Urumqi, der sich rasend schnell zur künftigen Hauptstadt Chinas entwickelnden Mega-Stadt im Nordwesten des Landes, verlegt worden. Außerdem hatte China mit seiner weltweiten Machtdominanz durchgesetzt, dass das alte europäisch-angelsächsische Rechtssystem ab diesem Zeitpunkt durch die chinesische Rechtsordnung ersetzt wurde.
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Auf dem letzten Wegstück entlang des Gipfelgrats wurde der Südostwind immer stärker. Da sie ihm hier ungeschützt ausgesetzt waren, kamen sie deutlich langsamer voran als geplant. Erst um 10: 55 Uhr erreichten sie den unteren Gipfelbereich. Es handelte sich um eine relativ ebene Fläche, die übersät war mit Stupas, den kleinen privaten Denkmälern der Gläubigen, sowie den an Leinen aufgehängten bunten kleinen Fahnen, die frühere Expeditionen hier gelassen hatten. Die Fahnen hätten vor dem dunkelblauen Himmel mit den wenigen, an weiße Mandeln erinnernden Cirrocumuluswolken, eigentlich einen fröhlichen Anblick bieten können, wenn nicht überall der dunkelgraue Ruß gelegen hätte. Auch war der Wind inzwischen so stark, dass sie laut knatterten, was zusammen mit dem scharfen Pfeifen der Befestigungsleinen bedrohlich wirkte.
Von hier oben hatte man den Blick auf zwei ganz unterschiedliche Landschaften. Mit Blick nach Süden erstreckten sich zur linken Seite hin die parallel zueinander verlaufenden Bergkämme des nepalesischen Himalaya, nach rechts war der indische Teil zu sehen. Diese Landschaft sah aus wie eine Gruppe versteinerter Brandungswellen, die auf einen Strand zuliefen.
Im Südwesten war in fünfundsechzig Kilometern Entfernung der 7.100 Meter hohe Api schwach zu erkennen. Als einzig markanter Berg im Süden erhob sich der Saipal mit 7.000 Metern und bildete damit in dieser Richtung den Horizont. Östlich, im Gegenlicht der Morgensonne, verliefen sich die vergleichsweise unspektakulären Bergkämme des nepalesischen Himalaya.
Der Blick nach Norden bot