Bloody Marys - das Leben birgt ein tödliches Risiko. Sabine Ludwigs

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war ihr sofort klar, dass ihre Rechnung aufgegangen war. Schließlich wussten nur Ellen und Friedrich, dass sie mit dem Auto unterwegs war. Und Friedrich – da war sie sich sicher – würde sie kaum zu erreichen versuchen. Sekunden später schrillte denn auch Ellens hysterische Stimme durch die Freisprechanlage: „Du musst sofort kommen, es ist etwas Furcht­bares passiert.“ Rebecca wendete auf der Stelle und brauste zurück. Den Versuch, aus Ellen etwas heraus zu kriegen, ersparte sie sich. Zum einen, weil es bei dem Zustand ihrer Freundin zwecklos schien. Zum anderen, weil sie ohnedies Bescheid wusste.

      Und so fand sie ihn denn auch im zerwühlten Ehebett. Nackt und mausetot. Paradoxerweise ragte genau jener Körperteil in die Höhe, der zu Lebzeiten stets nur wenig Standfestigkeit bewiesen hatte – jedenfalls bei ihr. Eine obszöne Demonstration postmortaler Manneskraft, die die Witwe diskret mit einem Laken bedeckte, bevor sie die völlig kopflose Ellen anwies, das Haus schnellstens zu verlassen und den Notarzt alarmierte.

      Der fand eine nur notdürftig bekleidete Ehefrau bei der Leiche ihres Gatten vor und schrieb diese gänzlich undamenhafte Aufmachung deren offensichtlicher Verzweiflung zu. Verständlich, wenn man so brutal mitten aus dem Liebesakt gerissen wird. „Viagra, sind sie da sicher? Wie konnte er nur so etwas tun bei seinem Gesundheitszustand?“ schluchzte Rebecca in ihr Taschentuch. „Wenn ich nur etwas geahnt hätte. Niemals hätte ich geduldet, dass er sein Leben so aufs Spiel setzt.“ Der Doktor unterzeichnete den Totenschein: Herzversagen. „Manchmal“, sagte er mit merkbarer Versonnenheit in der männlich sonoren Stimme, „werfen wir eben alle Bedenken über Bord und wollen’s noch einmal wissen – vor allem in der Midlife-Crisis. Übrigens ein schöner Tod – falls sie das zu trösten vermag.“ Dann packte er zusammen und versprach der ohnedies schwer geprüften Witwe äußerste Diskretion.

      Und so standen sie denn drei Tage später gemeinsam an Friedrichs Grab. Rebecca und Ellen, zwei Frauen, die ein Geheimnis zusammenschweißte. „Ich bin ja so froh, dass du dich um Mama kümmerst und ihr auch in der Praxis beistehen willst“, sagte Astrid zur gramgebeugten Freundin ihrer Mutter. Kinder schieben eben auch gern mal Verantwortung ab. „Lass gut sein“, beruhigte Rebecca ihre Tochter, „Ellen und ich kommen schon klar. Das alles braucht nur ein wenig Zeit.“

      Und die hatten sie ja nun, die beiden Witwen, die es sich gemeinsam im Grünen wohl sein ließen. Die Praxis warf genug für beide ab und Friedrichs Haus erwies sich als ideales Domizil für zwei, sofern nicht einer nur die Füße hoch legte und sich von dem anderen bedienen ließ. Aber das war ja wohl endgültig vorbei, was offensichtlich keine der beiden Frauen bedauerte.

      Tür an Tür

      Sabine Deitmer

      Wissen Sie, im Nachhinein mache ich mir richtig Vorwürfe. Da lebt man jahrelang Tür an Tür auf dem gleichen Treppenabsatz. Grüßt sich jedes Mal, wenn man sich sieht, auf der Treppe. Und ahnt nichts von dem, was sich hinter der Tür abspielt, gleich nebenan. Man fragt sich, ob man nicht doch hätte helfen können, das Schlimmste verhindern. Aber jetzt ist es eh zu spät … Die Kleine hat ja oft geschellt, wenn sie aus der Schule kam und den Schlüssel vergessen hatte. Dann hab ich ihr einen Kakao gekocht, und sie hat hier bei mir am Tisch gesessen und ihre Schulaufgaben gemacht und mit dem Hansi gespielt, bis ihre Mutter von der Arbeit kam. Eine süße Kleine, die schon viel zu früh erwachsen werden musste. Mir hat sie immer leid getan, wie sie mit dem Schlüssel um den Hals und dem viel zu großen Tornister morgens los gezogen ist. Höchstens sieben oder acht war sie da. Und schon so vernünftig, viel zu vernünftig für das Alter. Dass die Mutter und der Stiefvater sich nicht verstanden haben, war ja kein Geheimnis. Das wusste jeder im Haus. Aber, dass das mal so enden würde … Mir hat immer nur die Kleine leidgetan.

      Mich hat das eigentlich nicht überrascht. Hab selber fünf Kinder und fahre nachts Taxi. Da sieht man so allerhand. Und wundert sich selten. Und die Kleine, das war ’ne ganz pfiffige, rotzfrech. Meine fünf, die hatte sie voll unter Kontrolle. Die hat sie um den Finger gewickelt. Auch die Großen. Und immer hatte sie die Knie aufgeschlagen, war ’ne große Rollschuhfahrerin. Na ja, bei dem Zirkus, der da bei ihr zu Hause war, tat sie gut dran, schnell abzuhaun. Der Stiefvater war so ein aalglatter Vertretertyp, immer ’ne Spur zu freundlich, und die Mutter hatte mehr als einmal ’ne Fahne, wenn ich ihr auf der Treppe begegnet bin. Kann man ja verstehn, bei dem Mann. War sonst eigentlich ’ne nette Frau und arbeitete hart, das sah man ihr an. Aber die Kleine hat da mehr mitgekriegt, als gut war für ihr Alter. Vor mir hatte sie Angst. Wieso, weiß ich nicht. Als ich ihr einmal mit der Hand über die Haare gestrichen habe, ist sie richtig zusammengezuckt. Ich hab sie dann nie mehr angefasst.

      Die Biene war meine Freundin in der Grundschule. Wir waren viel zusammen. Sie ist oft gleich von der Schule mit zu mir nach Hause gekommen, weil ihre Mutter ja arbeiten ging, und meine war immer da. Manchmal hat sie auch bei mir geschlafen. Ich hab nie bei der Biene geschlafen. Die Biene war in Ordnung. Sie hat mir viel geholfen mit den Schulaufgaben und mir die Sachen erklärt, die ich nicht verstanden habe. Die Biene hat schnell kapiert. Von sich zu Hause hat sie nur ganz selten was erzählt. Das wusste ich gar nicht, dass das ihr Stiefvater war. Das habe ich alles erst später erfahren. Die Biene hat mir das nicht gesagt. Aber ich hab ihn gesehen. Ein paar Mal, wenn er die Biene im Auto von der Schule abgeholt hat. Dann hat er so komisch gepfiffen, wie für einen Hund, und die Biene musste springen. Wenn er wütend war, hat er mit den Backenzähnen geknirscht. Das haben wir vor dem Spiegel geübt, die Biene und ich. Wenn er das machte, hatte sie Angst. Das ist das Einzige, was sie mir erzählt hat. Ob sie ihn gemocht hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie Angst vor ihm gehabt hat.

      Ich wusste überhaupt nicht, wer alles hier wohnt in dem Haus. Vierundzwanzig Klingelknöpfe. Das hat mir gereicht. Auf jeder Etage drei. Da sprangen so viele Leute rum im Treppenhaus. Wenn ich die alle hätte kennen wollen. Ich kannte ja noch nicht mal die anderen Studenten, die mit mir da unter dem Dach wohnten. Na ja, die Gesichter, mehr nicht. Und die Kleine ist mir per Zufall über den Weg gelaufen. Als ich ein paar Hemden auf dem Speicher aufhängen wollte. Mein Zimmer war nämlich nur eine Art vergrößerter Schrank. Und wie ich auf dem Trockenspeicher rumturne, höre ich auf einmal so ein Wimmern aus einer Ecke, wie von einem kranken Tier. Völlig verstört war die Kleine, heulte vor sich hin und ließ sich nicht von mir anfassen. Da ist mir eingefallen, dass ich noch so ’n Ding für Seifenblasen in meinem Zimmer hatte von der letzten Fete. Das hab ich ihr dann gegeben. Und sie hat aufgehört zu heulen und Seifenblasen gemacht. Ich musste ihr versprechen, die Tür zum Speicher zu bewachen und niemanden rein zu lassen. Im Haus war schwer was los, das Gekreische hallte bis nach oben. Türenschlagen, Polizeisirenen und volles Pipapo. Der Kleinen hab ich meinen Schlafsack geholt, und ich hab mir mein Physiologiebuch mitgebracht und neben der Speichertür gehockt und gelernt. Da bin ich dann irgendwann eingeschlafen. Und die Kleine war weg aus dem Schlafsack, als ich morgens aufgewacht bin.

      Für die Kinder im Haus bin ich die „gute Tante“, so nennen sie mich. Ich habe immer ein paar Bonbons für sie und viel Zeit. Mehr Zeit als die Eltern. Das wissen sie, und deshalb kommen sie zu mir. Und ich freue mich. Das bringt ein bisschen Leben in meine Wohnung. Vielleicht ist das auch nur, weil ich selber keine Kinder habe. Vielleicht hole ich sie mir deshalb von der Straße. Das Mädel aus dem vierten Stock war auch oft bei mir. Eine ganz besonders Aufgeweckte war das. Kommandierte selbst die älteren Jungen von der Straße herum. Aber es gab auch Zeiten, da war sie richtig scheu. Drückte sich an meiner Tür vorbei mit den klappernden leeren Flaschen, für die sie volle holen musste, und sagte kein Wort, wenn ich die Tür einen Spalt öffnete. Das wusste doch jeder im Haus, dass der Stiefvater tagsüber, wenn die Mutter arbeitete, seine Geliebte mit hoch in die Wohnung nahm und das Mädel dann auf die Straße schickte. Die hatte es nicht leicht, die Kleine. Eine Mutter, die trinkt, und ein Stiefvater, der mit anderen Frauen im Bett liegt. Wie soll das denn so ein kleines Mädchen verkraften?

      Ich hätte nie geglaubt, dass das nicht seine leibliche Tochter ist. So stolz hat er sie überall rumgezeigt. „Das wird mal ein Klasseweib“, hat er immer gesagt. „Guck sie dir genau an, Friedrich. Ein Klasseweib wird das.“ Und dann hat er ihr immer gesagt, sie soll mal vor uns auf und ab gehen. Und ich musste immer sagen, dass ich das auch fände, dass sie mal ein Klasseweib wird. Und ob sie ihren Papi auch lieb hat, hat er sie immer gefragt. Und


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