Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
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Simone Dorra / Ingrid Zellner
Ein Lied in der Nacht
Roman
Band V der Kashmir-Saga
© 2020 Simone Dorra / Ingrid Zellner
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra
Coverfoto: Kokhanchikov/Shutterstock.com
Ornament: iStock.com/ AnnaPoguliaeva
www.kashmirsaga.de
www.simonedorra.de
www.ingrid-zellner.de
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-15578-7 |
e-Book: | 978-3-347-15579-4 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
»Der Glaube ist ein Vogel,der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.«
Rabindranath Tagore
Ein Personenverzeichnis und ein Glossar befinden sich am Ende des Buches.
Vorwort
1947 wurde Indien vom United Kingdom unabhängig; im Nordwesten spaltete sich ein Teil des Staatsgebiets für die Gründung von Pakistan ab. Die im Grenzgebiet der beiden Staaten gelegene Provinz Kashmir verlor danach ihre Souveränität, als erst pakistanische und dann als Antwort darauf indische Truppen einmarschierten. Der Bevölkerung wurde ein Referendum versprochen, das aber nie stattfand; die indische Regierung argumentiert bis heute, es sei nicht durchführbar gewesen, da schließlich Teile von Kashmir und Jammu von Pakistan besetzt seien. Seitdem kommt das Tal nicht mehr zur Ruhe und hat bis heute mit Terrorismus, Militärwillkür und wiederholten Anschlägen zu kämpfen.
Im August 2019 brachen einmal mehr heftige Unruhen aus, als Indien quasi mit einem Federstrich den Paragraphen abschaffte, der Kashmir wenigstens eine Teilautonomie garantiert hatte. Die Regierung wurde entmachtet, zahlreiche hochrangige Politiker verhaftet und weggesperrt, das ganze Tal erlebte einen monatelangen Shutdown mit strengen Ausgangssperren, geschlossenen Schulen und Läden sowie vollständig lahmgelegtem Internet. Erst im Frühjahr 2020 konnten Medienvertreter aus Kashmir erstmals wieder Lebenszeichen im Netz senden – ein Hoffnungsschimmer, der nur wenig später von einem erneuten monatelangen Lockdown zunichtegemacht wurde. Diesmal allerdings landesweit, aufgrund des Coronavirus.
Nun ist unsere Kashmir-Saga in erster Linie weder zeitgeschichtliches Sachbuch noch politischer Doku-Thriller, sondern einfach die fiktive Geschichte eines Waisenhauses bei Srinagar und zweier Familien aus verschiedenen Teilen Indiens. Die schwierige Lage Kashmirs und die Realität komplett auszublenden war für uns jedoch nie eine Option; die Konflikte und gewaltigen Probleme sowie die generelle Situation bestimmen immer wieder entscheidend die Handlung der Bücher und das Leben der Menschen, die darin vorkommen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchten wir deshalb vorab darauf hinweisen, dass der vorliegende Band 5 unserer Kashmir-Saga in den Jahren 2016 und 2017 spielt. Wir haben die politischen Ereignisse aus dem Jahr 2019 sowie die Coronakrise 2020 keineswegs vergessen oder unterschlagen – sie werden jedoch zeitlich erst ab Band 6 relevant. Und möge sich die Situation (nicht nur, aber vor allem auch in Kashmir) bis dahin in jeder Hinsicht entscheidend verbessert haben.
Welzheim/Dachau, September 2020
Simone Dorra & Ingrid Zellner
Vorspiel
Im Obstgarten
Der Oktober in Kashmir begann in diesem Jahr deutlich wärmer als sonst. In den Nächten sanken die Temperaturen zwar bis beinahe zum Nullpunkt, tagsüber jedoch stiegen sie bis auf fast dreißig Grad. In den Obstgärten von Alef Ali Zoraq waren die Ambri-Kashmiri-Äpfel bereit zur Ernte; ihre grüne Schale mit den tiefroten Streifen leuchtete durch das Laub der Bäume. Dazu waren die Maharaji drei Wochen früher reif als üblich, und plötzlich stellte Alef fest, dass es ihm an Hilfskräften fehlte. Da er allerdings schon seit geraumer Zeit einen Gutteil seines Ertrags an das Dar-as-Salam lieferte, das Waisenhaus von Vikram Sandeep in der Nähe von Srinagar, war nur ein Anruf nötig, um das Problem zu lösen.
So kam es, dass an einem sonnigen, wolkenlosen Samstag in der zweiten Oktoberwoche Sameera Sandeep auf einer Decke saß, die Leila, Alefs Frau, für sie auf der großen Obstwiese oberhalb ihres Hofes ausgebreitet hatte. Neben ihr lag ihr Sohn, der es seit neuestem fertigbrachte, sich auf die Seite zu drehen, und gerade neugierig eine Hand nach den Apfelspalten ausstreckte, die in einem Schälchen darauf warteten, gegessen zu werden. Mohan war jetzt fünf Monate alt, er konnte sich für kurze Zeit hochstemmen und alles in die Hand nehmen, was ihn interessierte – weswegen Sameera derzeit sicherheitshalber darauf verzichtete, ihre geliebten Creolen zu tragen, und weshalb ihr Mann Vikram jedes Mal rasch seine Lesebrille in Sicherheit brachte, wenn sein Sohn in der Nähe war.
Bei diesem Gedanken musste Sameera lächeln und schaute sich um. Am Horizont stiegen die Gipfel des Pir Panjal steil in den blauen Himmel; jede Felszinne war so deutlich zu sehen wie auf einem gestochen scharfen Foto. Dort, wo sich die Berghänge ins Tal hinabsenkten, boten sie ein atemberaubendes Farbenspiel aus dem tiefdunklen Grün der Zedern, den herbstlichen Flammenfarben der Buchen und Eichen und dem strahlenden Gold der Chenarbäume.
Gelächter und fröhliches Stimmengewirr wehten zu ihr herüber; abgesehen von Zeenath, die wenige Tage zuvor geheiratet hatte und jetzt in Gulmarg lebte, waren alle ihre Pflegekinder anwesend. Ahmad, Ibrahim und Yussuf hingen in den Baumkronen und pflückten; genau in dem Moment, als Sameera hinsah, zielte Yussuf mit einem Apfel auf Moussa, der etwas abseits Alefs und Leilas Kindern half, das frisch geerntete Obst nach Größen zu sortieren. Er traf ihn an der Schulter. Moussa blickte auf, lächelte und rief etwas, das sie nicht verstand. Maryam, Anjali und Firouzé luden volle Körbe auf die offene Ladefläche von Alefs robustem Lieferwagen, Zooni und Sameera beti sammelten die Früchte auf, die auf die Wiese gefallen waren. Und ganz unten am Ende der Obstwiese waren zwei Gestalten zu sehen, die an dem einfachen Holzzaun standen und miteinander redeten: Vikram und Azad, Sameera betis jüngerer Bruder.
Azad lebte erst seit wenigen Monaten bei ihnen im Haus des Friedens. Vor acht Jahren war er von seiner Schwester (die er immer liebevoll Ameera, Prinzessin, genannt hatte) getrennt worden, als man die Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern in verschiedene Waisenhäuser gesteckt hatte. Die kleine Sameera war kurz darauf eines der ersten Kinder geworden, die der ehemalige Agent und Elitesoldat Vikram Sandeep zu sich nahm, als er mit fünfzig vorzeitig seinen Dienst bei der indischen Abwehr quittierte und in Kashmir ein Waisenhaus eröffnete. Er hätte gerne auch ihren Bruder Azad aufgenommen, doch der Junge war spurlos verschwunden; wie sie jetzt wussten, war er zuerst mehrfach in andere Waisenhäuser abgeschoben worden, dann Terroristen der Lashkar-i-Toiba in die Hände gefallen und von denen wiederum als Sklave und Spielzeug an eine Bande sadistischer Paramilitärs an der Grenze zu Pakistan verkauft worden. Dass ihm schließlich von dort die Flucht gelungen war und er das Dar-as-Salam mitsamt seiner Schwester gefunden hatte, war für Sameera noch immer nichts weniger als ein Wunder.
Aber der Preis für dieses Wunder war entsetzlich hoch gewesen. Sameera spürte, wie ihr ein Schauder den Rücken hinabrieselte; instinktiv nahm sie ihr Baby auf und wiegte es in den Armen. Mohans Körper war warm und tröstlich; die durchscheinenden lohbraunen Augen, die denen ihres Mannes so ähnlich waren, betrachteten sie neugierig, und er gab einen leisen, weichen Laut von sich.
»Schon gut, Schätzchen«, sagte sie sanft. »Deine irische Urgroßmutter hätte