Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
dich mir für immer weggenommen…«
»Keine Angst.« Vikrams Stimme war tief und beruhigend, und der zärtliche Druck seiner Finger schien sie zu erden. »Ich werde dich nie verlassen, meri jaan.«
Sie beugte sich vor, bis ihre Stirn seine Brust berührte. Mohan war zwischen ihnen eingenickt; sein rundes Babygesicht war ein Abbild seligen Friedens.
»Das hoffe ich«, flüsterte sie und schloss die Augen.
Kapitel 1
Gegen die Angst
Am nächsten Tag kam Rizwan Padar zum ersten Mal in das Dar-as-Salam. Sameera hatte darauf bestanden, dass alle Kinder anwesend waren, wenn der neue Wachmann sich vorstellte, und deshalb den Termin auf einen Sonntag gelegt.
»Die Chemie muss stimmen«, sagte sie. »Wenn sie ihn nicht mögen oder gar Angst vor ihm haben, schicken wir ihn weg und suchen uns jemand anderen.«
Also waren kurz vor Padars Ankunft die Kinder samt und sonders auf der Veranda des großen, alten Holzhauses versammelt, um einen ersten Blick auf ihn zu werfen.
Vikram stand an einem Ende der Kinderreihe, Sameera am anderen, Moussa dicht neben sich. Als Vikram im Juli wegen des Mordverdachts verhaftet worden war, hatte Moussa die Rolle des Mannes im Haus übernommen, und noch immer ließ der Fünfzehnjährige sie kaum aus den Augen, obwohl Vikram schon lange wieder zuhause war.
Vikram seufzte lautlos in sich hinein.
Die Unruhen nach dem Tod des Widerstandskämpfers Burhan Wani und die Tatsache, dass er, Vikram, festgenommen und eingesperrt worden war, hatten tiefe Spuren in Moussas Seele hinterlassen – ein herber Rückschlag nach all dem stillen Selbstvertrauen und der Stärke, die der Junge seit seiner Ankunft vor fünf Jahren im Dar-as-Salam mit der Hilfe von Sameera und Vikram allmählich aufgebaut hatte. Und mit Hilfe von Raja, der ihn liebte wie ein Vater, und der von Moussa geliebt wurde wie von einem Sohn.
Plötzlich erinnerte sich Vikram wieder daran, wie Raja und Moussa sich zum ersten Mal begegnet waren – ein freundlicher Fremder in Srinagar, der den Kindern Mandelgebäck schenkte und ihm half, den liegengebliebenen Kleinbus des Waisenhauses wieder flott zu machen, und das scheue Kind, das überraschenderweise ständig seine Nähe suchte und den Blick nicht von ihm abwenden konnte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Eignung ihres neuen Leibwächters unter anderem auch davon abhing, wie Moussa auf ihn reagierte… quasi eine Art psychologischer Lackmustest. Und ganz besonders musste er auf Azad achten, der in dem Paramilitär-Lager auf brutale Weise gelernt hatte, sich vor Männern zu fürchten, und der vor Fremden meist erst einmal zurückschreckte.
Aus der Entfernung erklang das Röhren eines Motors; ein Jeep bog in die holperige Zufahrt zum Dar-as-Salam ein, näherte sich und blieb endlich mit quietschenden Bremsen vor dem Haus stehen. Die Fahrertür öffnete sich und ein Mann stieg aus. Er war mittelgroß und auf eine Weise kräftig, die nahelegte, dass er häufig Sport trieb. Sein Gesicht erzählte allerdings eine andere Geschichte… mit großen, überraschend sanften Augen, die sein Empfangskomitee interessiert musterten, olivgetönter Haut und einem dichten, sauber kurz gestutzten Bart rund um einen vollen Mund. Der verzog sich angesichts der Kinderschar zu einem breiten, fröhlichen Lächeln. Vikram registrierte mit einem raschen Seitenblick, dass fast alle Kinder das Lächeln spontan erwiderten. Auch Moussa… und Azad zeigte zumindest keine übermäßige Angst. Ihm wurde auf der Stelle deutlich leichter ums Herz.
»Rizwan Padar?«, fragte er.
»Eben derselbe.« Padar salutierte militärisch, dann lächelte er verlegen, faltete die Hände und neigte grüßend den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich eine solche Sensation bin.«
»Sie sind der Mann, der diese Kinder beschützen muss, wenn ich nicht da sein kann, um es selbst zu tun«, erwiderte Vikram. »Sie sollten die Aufgabe, die Sie vor sich haben, nicht unterschätzen.«
»Keine Sorge«, sagte Padar. »Ich bin mir bewusst, dass Sie mich aus gutem Grund hierher bestellt haben. Ihr Heim hat einen interessanten Ruf in diesem Tal.«
»Sie finden uns interessant?«
Das war Sameera, die plötzlich neben Vikram stand, Moussa hinter sich, der ihre Finger fest umschlossen hielt. Sie klang ausgesprochen reserviert. Padar sah sie an, legte eine Hand auf die Brust und verneigte sich tief.
»Sandeep sahiba«, sagte er, »es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen – genau wie Ihren Mann und Ihre Kinder.« Diesmal blieb sein Gesicht ernst, aber das Lächeln funkelte in seinem Blick wie ein ironisches Irrlicht. »Ich hoffe, ich finde Gnade vor Ihren Augen.«
»Das hängt ganz von Ihnen ab.« Sameeras Haltung entspannte sich leicht, und sie legte den Kopf schräg. »Sie waren bei der Armee, soweit ich weiß?«
Er nickte. »Rashtriya Rifles. Bis vor drei Monaten.«
»Auf eigenen Wunsch ausgeschieden und ehrenhaft entlassen«, ergänzte Vikram. »Im Rang eines Naik, und mit einem Zusatztraining als Scharfschütze. Ihre Vorgesetzten haben es bedauert, Sie zu verlieren, und die nächste Beförderung wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.«
»Sie kennen meine Dienstakte.« Padar nickte und musterte ihn aufmerksam. »Natürlich. Sie mussten sichergehen, dass ich für Ihre Bedürfnisse tauglich bin.« Sein Blick schweifte zu den Kindern hinüber, die ihn unverwandt beobachteten. »Vielleicht sollten wir das Einstellungsgespräch besser drinnen fortsetzen?«
»Keine schlechte Idee.« Vikram öffnete die blaue Tür und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie.«
***
»Was hältst du von ihm?«
Vikram saß am Tisch in der Küche, während Sameera den Pfannkuchenteig für das Frühstück der Kinder am nächsten Morgen vorbereitete. Er fand es außerordentlich friedlich, ihr dabei zuzusehen, wie sie Eier aufschlug, Mehl siebte und Milch in die große Schüssel goss. Normalerweise war das die Aufgabe ihrer Köchin Zobeida, aber die hatte sich freigenommen, damit sie sich ein paar Tage ausschließlich um die hochbetagte Mutter ihres Mannes Hamid kümmern konnte, die ein wenig kränkelte.
»Ich denke, ich mag ihn«, sagte Sameera, während sie mit dem Schneebesen in der Schüssel rührte. »Und die Kinder mögen ihn auch. Sie haben ihm jedes Zimmer gezeigt – genau wie damals bei Raja.«
»Er kann gut mit ihnen umgehen«, erwiderte er zustimmend. »Freundlich, aber nicht zu freundlich, wenn du verstehst, was ich meine. Er biedert sich nicht an.«
»Richtig.« Sameera deckte die Schüssel mit dem fertigen Teig ab und stellte sie in den Kühlschrank. »Außerdem hat er sich von Ibrahim seine neuesten Schnitzereien erklären lassen, und der hat ihm einen regelrechten Vortrag gehalten, obwohl er sonst kaum den Mund aufbekommt – jedenfalls Fremden gegenüber.«
Vikram ließ den Nachmittag ein letztes Mal vor seinem inneren Auge vorüberziehen.
»Die Mädchen waren zuerst ein bisschen scheu«, meinte er, »aber nicht lange. Er hat ihnen gegenüber genau den richtigen Ton getroffen.«
»Klingt fast perfekt, nicht?« Sameera ließ den Schneebesen in die Spüle fallen. »Wie gesagt, ich denke, ich mag ihn.«
Vikram hob eine Augenbraue. Er kannte seine Frau. »Denkst du das.«
»Ich werde ein bisschen Zeit brauchen, um ihn wirklich einschätzen zu können«, sagte sie. »Heute hat er sich ganz sicher von seiner besten Seite gezeigt, aber das hält kein Mensch dauerhaft durch, ohne sich irgendwann eine Blöße zu geben. Erst wenn ich die gesehen habe, fälle ich mein endgültiges Urteil.«
»Dann wird er wohl so lange warten müssen, bis er ›Gnade vor deinen Augen findet‹.« Vikram grinste.
»Damit hat er mir fast den Wind aus den Segeln genommen.« Sameera grinste ebenfalls, dann wurde ihr Blick weich. »Gott sei Dank ist Azad nicht vor ihm zurückgeschreckt. Und im Aufenthaltsraum hat Padar gefragt, wer die vielen tollen Landschaftsbilder aus Gulmarg gemacht hat. Moussa hat sich