Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
Wie Frankenstein nach dem Frühstück, hatte Vishal seinen Anblick vor kurzem in Shivapur trocken kommentiert. Zum Glück kannte Raja seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass diese Bemerkung humorvoll gemeint war… gut, wohl eher Galgenhumor, aber in jedem Fall nicht böse. Und es stimmt ja auch, dachte Raja, als er vorsichtig die langen, dunkelroten Narben auf seiner Brust betastete, wo vor gut sechs Monaten ein paar betrunkene, grölende Paramilitärs sich gegenseitig die Schärfe ihrer Messerklingen vorgeführt hatten. Auch die mehrschwänzige Peitsche ihres Anführers Djamal Kamil hatte deutliche Spuren auf ihm hinterlassen; unwillkürlich drehte Raja sich um und blickte über seine Schulter, um seinen völlig vernarbten Rücken im Spiegel zu begutachten. Wenigstens waren die Hämatome, die seine Haut am ganzen Körper abwechselnd blau, grün, gelblich und lila verfärbt hatten, mittlerweile verschwunden, und auch die vielen kleinen kreisrunden Stellen, wo seine Peiniger ihre Zigaretten auf ihm ausgedrückt hatten, verblassten allmählich. Dafür hatten die Silberfäden, die sein dunkelbraunes Haar durchzogen, sich zuletzt geradezu explosionsartig vermehrt. Sei’s drum. Das war definitiv das kleinste Übel.
Er atmete tief durch. Manchmal erschien es ihm immer noch wie ein Wunder, dass er die sieben Tage Gefangenschaft in Djamal Kamils Folterhölle vergleichsweise gut und ohne allzu gravierende Folgeschäden überstanden hatte. Dass er jetzt an der linken Hand nur noch vier Finger hatte (der kleine war nach einer Begegnung mit Kamils Schlachtermesser im Lager geblieben), damit kam er erfreulich gut zurecht. Und dass kaum eine Nacht ohne Albträume verging – daran war er zu seinem Leidwesen längst gewöhnt. Schließlich hatte er sein halbes Leben im Gefängnis verbracht und auch aus dieser Zeit Narben davongetragen – sichtbare wie unsichtbare.
Aber er hatte in dieser Zeit auch gelernt, sich von nichts brechen zu lassen. Das Leben ging stets weiter. Was sich nicht ändern ließ, damit musste man klarkommen, egal wie. Man musste nach jedem Fall und jedem Schicksalsschlag wieder aufstehen, um weiterzumachen, immer. Und aus jeder Prüfung, der man sich stellte, anstatt vor ihr davonzulaufen, ging man am Ende gestärkt hervor. Es waren oft sehr bittere Lektionen gewesen… aber nur dank ihnen lebte er noch.
Und manchmal bekamen selbst schlimmste Leiden am Ende sogar so etwas wie einen Sinn. In diesem Fall betraf das den unterdrückten Jungen namens Azad, den Raja in Kamils Lager kennengelernt hatte. Sie hatten sich angefreundet, einander in Stunden größter Not beigestanden, und Raja hatte ihm vom Dar-as-Salam erzählt – in der Hoffnung, dass dem Jungen eines Tages die Flucht gelingen und er dann bei Vikram ein neues Zuhause finden möge. Genau so war es schließlich gekommen… und als Krönung war Azad im Haus des Friedens auch noch mit seiner Schwester wiedervereint worden. Allein das war die ganzen Schmerzen und Demütigungen in dem Lager irgendwie wert gewesen.
Er bedachte sein Spiegelbild mit einem schiefen Lächeln, stellte sich unter die Dusche und drehte den Hahn auf. Schon bald lief angenehm warmes Wasser über seinen Körper, und er schloss die Augen, als er sein Gesicht in den kräftigen Strahl hielt. Sein Gesicht mit der großen, dunkelroten Narbe direkt unter dem Haaransatz rechts und der alten, tief eingekerbten Narbe auf der rechten Wange. Zum Glück hatte Rani sich sehr schnell an diesen Anblick gewöhnt; sie liebte es sogar, ihrem Papa Küsschen auf die Stirnnarbe zu geben. »Damit es dir nicht mehr so wehtut, da, wo diese gemeinen Männer dich gehauen haben.«
Natürlich hatten er und Sita Rani keine Einzelheiten über seine Zeit in dem Lager erzählt. Aber die Gelassenheit, mit der seine kleine Prinzessin seine Verunstaltung hinnahm, hatte Raja dazu ermutigt, noch einen Schritt weiter zu gehen. Sita war zunächst dagegen gewesen; ihrer Ansicht nach war es noch zu früh dafür. Aber schließlich hatte Raja sie überzeugt. Rani war jetzt sechs Jahre alt, sie ging zur Schule, und bevor sie dort unvorbereitet Kommentare von Mitschülern hörte wie »Dein Papa war doch mal im Knast, oder?«, war es mit Sicherheit besser, ihr vorher schon die Wahrheit zu sagen. Selbstverständlich ohne all die grauenhaften Details… aber eben das Wichtigste: Es gab mal eine Zeit, lange bevor du auf der Welt warst, mein Schatz, da war dein Papa im Gefängnis. Man hatte ihn dort eingesperrt, weil man dachte, er hätte einer Frau sehr wehgetan und sie umgebracht. Aber das stimmte nicht. Dein Papa war unschuldig. Leider hat man das erst nach fünfundzwanzig Jahren herausgefunden – aber nun ist dein Papa wieder frei, und er war nie ein Verbrecher.
Rani hatte ihn mit großen Augen angeschaut, als er ihr das erzählte. Dann hatte sie ohne Zögern erklärt, dass ihr Papa der beste Papa der Welt sei und dass es voll gemein gewesen wäre, ihn so lange einzusperren. Und dass hoffentlich nie, nie, nie wieder jemand so fies zu ihrem Papa sein würde.
Raja lächelte bei dieser Erinnerung, während er sich nach Rosmarin duftendes Shampoo ins Haar massierte. Seine kleine Tochter war genauso ein Schatz wie seine Frau. Und da sie mittlerweile neben den Misshandlungsspuren in seinem Gesicht und dem Stumpf an seiner linken Hand auch schon die eine oder andere Narbe auf seinen Unterarmen und in seinem Hemdausschnitt kannte, hatte er es einige Zeit danach sogar gewagt, sie behutsam auf den Rest vorzubereiten – auch das aus ganz praktischen Überlegungen heraus; immerhin bestand in ihren eigenen vier Wänden jederzeit die Möglichkeit, dass Rani ihn irgendwann einmal zufällig mit entblößtem Rücken zu Gesicht bekam, und den Schock, den sie dann mit Sicherheit bekommen würde, wollte er ihr ersparen.
Also hatte er ihr erzählt, dass man im Gefängnis nicht immer gut zu ihm gewesen war, dass man ihn auch manchmal geschlagen hatte – und dass die Spuren davon immer noch zu sehen waren. Und dann hatte er seine Kurta abgestreift und ihr viel Zeit gegeben, ihn von allen Seiten zu betrachten und sich damit vertraut zu machen, dass diese vielen Narben zu ihrem Papa gehörten und dass das nichts war, wovor sie erschrecken musste. Er hatte sie seine Narben betasten lassen und ihr (wenn auch nicht völlig wahrheitsgemäß) versichert, dass das alles jetzt nicht mehr wehtat. Und dann hatte sie tröstend die Arme um seinen Hals geschlungen und sich liebevoll an ihn geschmiegt, während er sie mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung an sich gedrückt hatte.
Er spülte sich die Schaumreste aus den Haaren. Dass er jetzt auch in diesem Punkt offen mit seiner Tochter umgehen konnte, machte ihm vieles leichter. Irgendwann, in ein paar Jahren, würde er ihr vielleicht noch mehr erzählen. Auch von seiner Gefangenschaft in dem Paramilitär-Lager… die er eigentlich gar nicht hätte überleben sollen; schließlich hatte Avan Gupta, ein alter und geschworener Feind Vikrams, ihn ein für alle Mal beseitigen wollen, weil Raja zufällig zum Zeugen und Mitwisser eines seiner zahllosen Verbrechen geworden war. Dass er trotzdem noch lebte, verdankte Raja zum einen dem Umstand, dass Gupta ihn noch als Geisel gebraucht hatte und Kamils Bande ihn deshalb nicht sofort genüsslich in seine Einzelteile hatte zerlegen dürfen. Und zum anderen natürlich dem Rettungsteam, das ihn in einer waghalsigen Aktion aus dem Lager befreit hatte – allen voran Vikram, sein geliebter Freund und Bruder, dazu dessen ehemaliger Armeegefährte Resul Hasrad, Rajas ältester Sohn Surya und Vishal, sein brother from another mother aus den alten Gefängniszeiten. Niemals würde er ihnen das vergessen.
Er drehte den Duschhahn zu, fuhr sich mit allen neun Fingern durch das nasse Haar und griff nach dem großen, flauschigen Badetuch, das auf der Ablage bereitlag. Während er sich trockenrieb, wanderten seine Gedanken zum Dar-as-Salam in Kashmir. Am Vorabend hatte er endlich mal wieder kurz mit Vikram dort telefonieren können. Das Netz bricht immer noch regelmäßig zusammen, hatte Vikram geseufzt, und wir müssen jederzeit mit neuen Ausgangssperren rechnen, die Leute haben sich noch lange nicht beruhigt. Ständig kracht es wieder irgendwo. Manchmal frag ich mich, ob das jemals aufhört. Wahrscheinlich nicht. Die Fronten sind zu verhärtet.
So weh ihm das auch tat, aber Raja musste ihm zustimmen. Seit er vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal nach Kashmir gekommen war, hatte er nicht nur die Schönheiten, sondern auch die Schattenseiten dieses Tals kennengelernt. Und das nach dem Tod von Burhan Wani ausgebrochene Chaos hatte er im Juli hautnah miterlebt. Ohne die Hilfe ihres gemeinsamen Freundes Nanda Singh, Colonel der indischen Abwehr, der ihm den Mitflug in einer Militärmaschine ermöglicht hatte, hätte er es wohl gar nicht erst nach Srinagar geschafft, zumindest nicht so schnell – und was Vikram in seiner Untersuchungshaft dann noch alles gedroht hätte, darüber mochte Raja gar nicht erst nachdenken. Wenn jemand wusste, wie es hinter Gefängnismauern zuging, dann er.
Auch deshalb hatte er damals, nachdem er von Vikrams