Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner


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sehe schon«, schmunzelte Raja, »in unserem nächsten Leben müssen wir unbedingt als Kashmiris zur Welt kommen.«

      Sie richtete sich auf und sah ihn an.

      »Von mir aus gerne«, entgegnete sie. »Aber das ist für mich zweitrangig. Ob wir im nächsten Leben in Kashmir geboren werden oder in Shivapur oder am anderen Ende der Welt – das ist mir egal. Hauptsache, ich darf auch dann wieder deine Frau werden.«

      Sie lächelte, und Rajas Herz machte einen freudigen Satz. Immer noch, dachte er. Auch nach mittlerweile fünfunddreißig Jahren. Gott, wie ich dieses wunderschöne Lächeln liebe!

      »Was denkst du denn«, sagte er und zog sie liebevoll an sich. »Du wirst immer meine Frau und meine große Liebe sein, in diesem Leben, im nächsten Leben und egal wie oft wir uns noch wiederbegegnen werden. Und ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder über fünfundzwanzig Jahre lang warten lassen.«

      »Das ist ein Wort«, versetzte Sita. »Vor allem, wenn unsere Ehe auch dann so glücklich wird wie in den fünfeinhalb Jahren, die wir jetzt verheiratet sind.«

      »Ist das so?«, fragte er leise. »Bist du glücklich, meri chandni?«

      »Fragst du das im Ernst?« Verwundert sah sie zu ihm auf.

      Er erwiderte ihren Blick, und plötzlich lächelte er.

      »Nein. Nicht wirklich.«

      Er neigte sich über sie, und ihre Lippen begegneten einander… erst sanft, dann immer leidenschaftlicher. Die Wärme, die ihn dabei durchflutete, kam nicht nur von den Strahlen der hell scheinenden Sonne, und der zarte Blumenduft, der ihn umfing, stammte nicht nur von den unzähligen farbenprächtigen Blüten in dieser friedlichen kleinen Oase.

      Er liebte Lonavala. Noch mehr liebte er Kashmir.

      Und am allermeisten liebte er Sita.

      ***

      Mit einem leichten Ruck setzte die Maschine auf der Landebahn auf, rollte langsam aus und kam mit laut quietschenden Bremsen zum Stehen. Raja atmete durch; auch die zweite Etappe ihrer Anreise war geschafft. Frühmorgens in Pune gestartet, waren er und Sita am späten Vormittag in Delhi eingetroffen und hatten bis zu ihrem Weiterflug noch Zeit gehabt, sich auf einen Kaffee mit Colonel Nanda Singh zu treffen. Leider war dieses Wiedersehen sehr kurz ausgefallen, und Raja musste Nanda fest versprechen, es beim nächsten Mal so einzurichten, dass sie etwas länger in Delhi bleiben konnten. Zum Abschied hatte Nanda ihnen schließlich noch ein Päckchen in die Hand gedrückt: »Aber erst morgen aufmachen, ja?«

      Natürlich hatten sie ihm sofort ihr Ehrenwort gegeben. Erst morgen würden sie den Inhalt des Päckchens inspizieren. Morgen – am 1. Dezember.

      Dass sie ihren gemeinsamen Geburtstag diesmal nicht wie sonst zu Hause verbringen würden, lag an dem Geschenk, das ihre Familie sich in diesem Jahr für sie ausgedacht hatte. Ihre Söhne, Schwiegertöchter und engsten Freunde hatten alle zusammengelegt, und das Ergebnis war ein Umschlag mit Flugtickets und Hotelbuchungsbestätigung gewesen, den Surya seinen Eltern zwei Wochen zuvor nach ihrer Rückkehr aus Lonavala feierlich überreicht hatte. Angesichts des Inhalts waren ihnen beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen – aber seitdem hatten sie sich auf ihren Geburtstag gefreut wie kleine Kinder. Vishal und seine Frau Pooja, die zusammen mit ihnen im gleichen Haus lebten, hatten Rani für die drei Tage, die sie fortbleiben würden, zu sich genommen, und Rani hatte ihren Eltern mit einem schelmischen Lächeln erklärt: Dass sie diesen Ausflug ohne sie machen durften, sei ihr, Ranis, Geburtstagsgeschenk für sie beide.

      Was sie jedoch nicht daran gehindert hatte, ihnen an diesem Morgen vor ihrer Abreise eine kleine Schachtel zuzustecken, die sie unbedingt noch mitnehmen sollten.

      All das ging Raja durch den Kopf, während er bei der Gepäckausgabe auf seine Reisetasche wartete und sich dann mit Sita zum Ausgang begab. Schnell fanden sie unter all den Wartenden den Mann mit dem SHARMA-Schild in den Händen, der sie abholen sollte, und nach einer kurzen Fahrt in einer klimatisierten Limousine hatten sie ihr Ziel des Tages erreicht: ein Fünf-Sterne-Hotel, wie es für sie sonst in ihren wildesten Träumen nicht in Frage gekommen wäre. Aber ihre Kinder waren offenbar der Ansicht gewesen, dass für ihre Eltern an deren Geburtstag nur das Beste gut genug war. Verrückte, geliebte Bande.

      Ein livrierter Angestellter des Hotels übernahm ihr Gepäck, führte sie von der Rezeption durch die elegante Eingangshalle zu einem Aufzug und begleitete sie in ihre geschmackvoll eingerichtete Suite im obersten Stockwerk. Die Vorhänge vor dem großen Panoramafenster waren noch zugezogen, und während Raja den Angestellten mit einem Trinkgeld entlohnte, machte Sita sich daran, sie beiseitezuschieben.

      »Raja!«, hauchte sie atemlos, als sich die Tür hinter dem Mann in Livree geschlossen hatte. »Raja, schau!«

      Raja trat neben sie und holte tief Luft; dann legte er den Arm um ihre Schultern und küsste sie sanft auf den Scheitel, bevor auch er wortlos in dem Anblick versank, der Sita so überwältigt hatte: Hinter dem Dächermeer Agras, das sich vor ihnen erstreckte, erhob sich, wie zum Greifen nah, der weißschimmernde Prachtbau des Taj Mahal.

      ***

      Um halb sechs Uhr am nächsten Morgen klopfte es an ihrer Zimmertür. Die freundliche Dame unten an der Rezeption hatte ihnen am Vorabend geraten, sich schon möglichst früh abholen zu lassen – dann sei die Schlange vor dem Südlichen Tor noch nicht ganz so lang und sie könnten das wunderbare Grabmal auch schon im Morgenlicht bewundern. Also hatte Raja ihren lokalen Guide für sechs Uhr bestellt, und der Hotelservice hatte bereitwillig seinen und Sitas Wunsch notiert, eine halbe Stunde vorher ein Tablett mit Chai und Parathas in ihre Suite geliefert zu bekommen.

      Bevor sie später zu Bett gegangen waren, hatten sie noch einen kleinen Geburtstagstisch aufgebaut: Ranis Schachtel, Nandas Päckchen, das Paket aus Srinagar, das einen Tag vor ihrer Abreise eingetroffen und sofort in ihr Reisegepäck gewandert war, und dazu noch ihre eigenen Geschenke. Dann waren sie zusammen in das stilvoll gestaltete Badezimmer mit den goldschimmernden Armaturen gegangen und hatten sich nackt und glücklich aneinandergeschmiegt, während das warme Wasser aus der großen Regenwalddusche an ihnen hinabfloss. Wieder und wieder küssten sie sich und flüsterten einander Zärtlichkeiten ins Ohr. Und sie hörten damit auch nicht auf, als sie schließlich eng umschlungen in das riesige Doppelbett sanken und sich liebten – bis in ihren Geburtstag hinein.

       »Janamdin mubarak ho, meri chandni. Ich liebe dich.«

       »Ich liebe dich, Raja. Mubarak ho.«

      Raja lächelte leise bei dieser Erinnerung, als er nun dem livrierten Angestellten mit dem Frühstückstablett öffnete. Der Mann wünschte freundlich einen guten Morgen und servierte an dem runden Tisch in ihrer Suite eine Platte mit duftenden Parathas, ein Schälchen mit cremig gerührtem Joghurt und eine silberglänzende Kanne mit Chai, aus der er sofort in zwei schön geschwungene Porzellantassen einschenkte. Ein angenehmes Aroma aus Tee, Zimt und Kardamom verbreitete sich in dem Raum, als Raja den Mann mit einem kleinen Rupienschein verabschiedete. Im gleichen Moment, als die Tür sich hinter ihm schloss, kam Sita aus dem Badezimmer, und ihre Augen leuchteten auf, als sie Raja erblickte. Sie hatte ihn dringend gebeten, ihr Geschenk an ihn schon vorab zu öffnen, bevor er sich anzog, und als er das Päckchen geöffnet hatte, wusste er auch, warum: Sita hatte eine neue, smaragdgrüne Kurta mit dazu passenden Churidars für ihn genäht; von der Brust aus rankten goldglitzernde Applikationen wie sanft züngelnde Flammen zu beiden Seiten des Ausschnitts empor und verbreiteten sich von dort über die Schultern und die halben Ärmel hinab.

      »Steht dir gut«, stellte sie zufrieden fest. »Gefällt sie dir?«

      »Fast so gut wie du, meri chandni«, erwiderte er. »Du siehst bezaubernd aus.« Er bewunderte ihren Sari in genau der gleichen Farbe wie seine neue Kurta, die wunderbar mit ihrem Mangalsutra harmonierte – einer Goldkette mit einem dreieckigen Anhänger, der mit fünfundzwanzig kleinen Smaragden und Rubinen besetzt war. Fünfundzwanzig Jahre der Hoffnung und der Liebe, in denen sie durch mehr als nur Kerkermauern getrennt gewesen waren.

      Er küsste sie liebevoll, dann


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