Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner


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einem astreinen Alibi auszustatten, konnte natürlich nur funktionieren, wenn alle, die damals dabei waren, an einem Strang zogen und bereit waren, ein gewisses Risiko einzugehen. Zum Glück hatten Surya, Vishal und Resul keinerlei Skrupel gehabt, ebenso wie Raja eine faustdicke Falschaussage bei der Polizei zu machen und diese notfalls sogar vor Gericht und unter Eid zu wiederholen. Für unseren Kommandanten mach ich alles, hatte Vishal kurz und bündig erklärt, und Surya hatte hinzugefügt: Vikram hat dich aus dem Lager rausgeholt, da lassen wir ihn jetzt doch nicht hängen! Auf mich kannst du zählen, babuji.

      Sie hatten die Version, die Raja bei der Polizei in Kashmir zu Protokoll geben würde, so lange gemeinsam nach Schwachstellen abgeklopft und in jeder noch so kleinen Einzelheit festgelegt, bis sie sich absolut sicher waren, dass es bei ihren Aussagen zu keinen Widersprüchen kommen würde. Dennoch war Raja selten so angespannt gewesen wie während seines Verhörs durch Staatsanwalt Kode und diesen Giftzwerg Narendra Nikam in Srinagar… ganz zu schweigen von den Tagen, die er danach in polizeilichem Hausarrest ausharren musste, bis auch die anderen drei Aussagen vorlagen. Er wusste: Beim geringsten Fehler drohte ihnen allen Gefängnishaft. Ein Risiko, das Vikram ihm zwar durchaus wert war (auch wenn er während des Verhörs wohlweislich das Gegenteil beteuert hatte) – aber es wäre doch ein verdammt unerfreuliches Ende seiner Operation Heermeister gewesen.

      Sein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Bloß gut, dass er auch das seinerzeit im Knast gelernt hatte: Frechheit siegt.

      Er schlüpfte in eine dunkelblaue Kombination aus Kurta und Churidars und hängte sich die Silberkette mit dem Ganesha-Anhänger um, die Sita ihm vor ein paar Wochen geschenkt hatte. Dann ging er über die große, geschwungene Treppe nach unten und in den Eingangsbereich des Hauses, wo Rani ihm von draußen entgegengerannt kam und trotz seiner Vollbremsung frontal mit ihm kollidierte.

      »Hoppla!« Er lachte laut und nahm seine Tochter mit Schwung auf den Arm. »Bist du etwa auf der Flucht, mein Schatz?«

      Sie quietschte vergnügt. »Nein – aber ich hab eine ganz tolle Idee für ein Bild, und das muss ich jetzt sofort malen!«

      »Na, dann nichts wie los!« Raja setzte sie auf dem Boden ab. »Darf ich das Bild dann nachher sehen, wenn es fertig ist?«

      »Klar«, strahlte Rani und flitzte nach oben. Raja hörte gerade noch, wie sie anfing, lauthals einen Filmschlager zu trällern, ehe sich die Tür zu ihrem Zimmer hinter ihr schloss. Er lächelte in sich hinein. Rani hatte ganz eindeutig die Musikalität ihrer Mutter geerbt, die großartig tanzen konnte und eine wunderschöne Singstimme hatte. Sein Bruder Vikram wusste schon, warum er Sita so gerne ›meri sangeetkar‹ nannte.

      Er ging nach draußen auf die Veranda und wartete dort, als er sah, dass nun auch Sita über den gepflegten Rasen auf ihn zukam. Ein Salwar Kameez aus fließendem fliederfarbenem Stoff umschmeichelte ihre schlanke Figur, das lange dunkle Haar fiel ihr offen den Rücken hinab und ihre nussbraunen Augen leuchteten auf, als sie ihn sah.

      »Puh!«, stöhnte sie lachend. »Wieder ein neues Märchen gelernt. Aber demnächst ist unsere lesehungrige Tochter durch mit diesem Buch, dann werden wir für Nachschub sorgen müssen.«

      »Vielleicht solltest du deine didi mal dazu anregen, ihren reichen Schatz an selbsterfundenen Märchen aufzuschreiben«, schmunzelte Raja. »Ich hab gerade überlegt, ob ich uns einen Chai koche; möchtest du einen?«

      »Gern«, antwortete Sita und küsste ihn auf die Wange. »Ich komm mit, dann kann ich gleich das Alu Gobhi für heute Abend vorbereiten.«

      Sie gingen in die Küche. Während Raja Gewürze mörserte, leicht anröstete und mit Wasser ablöschte, beobachtete er immer wieder verstohlen Sita, wie sie routiniert Kartoffeln schälte und würfelte. In der ersten Zeit nach seiner Gefangenschaft in dem Lager hatte er unter einer regelrechten Messerphobie gelitten, und an ganz schlechten Tagen kreuzte er immer noch beim bloßen Gedanken an eine scharfe Klinge panisch die Arme vor der Brust mit den langen roten Narben. Immerhin gelang es ihm inzwischen wieder, ein Messer in die Hand zu nehmen und zumindest ein paar Stücke Obst oder Gemüse zu schneiden, bevor sich wieder alles in ihm zusammenzog und er aufhören musste. Nichtsdestotrotz betrachtete er jede Zwiebel und jede Kartoffel, die er kochfertig zerkleinerte, als einen Fortschritt, der ihn hoffnungsvoll stimmte – auch wenn er an einer Herausforderung nach wie vor scheiterte: Beim Zerteilen von rohem Fleisch konnte er nicht einmal zusehen. Allein die Vorstellung, wie die Klinge durch ein Stück Hühneroder Lammfleisch glitt, löste bei ihm Schweißausbrüche und würgende Übelkeit aus.

      Er goss Milch in das simmernde Gewürzwasser, fügte Zucker und Teeblätter hinzu und ließ das Ganze kurz aufkochen. Dann nahm er den Topf vom Herd, damit der Chai ziehen konnte, stellte sich neben Sita und griff entschlossen nach dem Blumenkohl. Zum Glück verschonte Sita ihn mit besorgten oder überängstlichen Einwänden; sie überließ seinen Umgang mit diesem lästigen psychischen Folgeschaden seiner Lagerfolter ganz und gar ihm.

      Unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft schaffte er es, den Blumenkohl komplett in kleine Röschen zu zerteilen, bevor er das Messer erleichtert beiseitelegte. Sita bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick, als sie die Schüssel entgegennahm. Sie kippte den Inhalt zusammen mit ihren Kartoffelstücken und gehackten Chilischoten in einen Karahi, in dem bereits eine Menge kleiner Zwiebelwürfel und Kreuzkümmelsamen in heißem Ghee brutzelten. Während sie das Ganze unter Rühren anbraten ließ, fügte Raja mehrere Gewürze und geriebenen Ingwer hinzu. Schließlich hob Sita noch kleingehackte Tomaten, Salz und etwas Joghurt unter, goss eine Tasse Wasser dazu und legte den Deckel auf.

      »Jetzt wäre ein Chai recht«, stellte sie fest. Raja nickte, füllte den Inhalt seines Topfes durch ein Sieb in die große Thermoskanne, schenkte zwei Gläser voll und reichte eines seiner Frau.

      »Danyavaad – danke, Raja!«

      Sie tranken ihren Chai in einträchtigem Schweigen, während das Alu Gobhi langsam vor sich hin köchelte. Abwechselnd rührten sie immer wieder darin um, bis das Gemüse weich war und sie das Werk mit etwas Limettensaft und Garam Masala vollendeten. Dann schalteten sie den Herd aus, nahmen den restlichen Chai mit nach draußen und ließen sich auf der steinernen Bank nieder. Sita gab einen glücklichen Seufzer von sich und lehnte sich an ihn.

      »Ich liebe dieses kleine Paradies«, sagte sie. »Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich mich hier jemals wieder so wohlfühlen könnte. Aber inzwischen denke ich komischerweise nur noch selten an Ismail Fateh Rehman, wenn ich hierherkomme. Die guten Erinnerungen haben eindeutig die Oberhand gewonnen.«

      Raja nickte. Natürlich würde keiner von ihnen den Anschlag auf die Sandeeps, als sie im August des vergangenen Jahres zu Besuch hier waren, jemals vergessen. Aber letzten Endes war es wie mit seiner Lagerhaft im Frühjahr: Es war vorbei, man hatte überlebt, und nur das zählte. Das Leben ging stets weiter.

      »Geht mir ebenso«, erwiderte er. »Und Vikram und Sameera hoffentlich auch.«

      »Bestimmt«, lächelte Sita. »Schließlich haben sie außer dem Schrecken auch die wunderbarste Erinnerung von allen aus Lonavala mitgenommen. Die ist mittlerweile übrigens siebzig Zentimeter groß und wiegt stolze sieben Kilo – jedenfalls laut der Mail, die ich heute früh von Sameera bekommen habe.«

      »Der chhota sher ist offenbar wild entschlossen, genauso groß und stark zu werden wie sein Vater«, stellte Raja fest. »Ich hoffe nur, dass wir zu Weihnachten problemlos nach Kashmir fliegen können; ich freu mich so sehr darauf, den Kleinen wiederzusehen – ihn und all die anderen Kinder. Es ist ein Gefühl… eine Vorfreude, als käme ich nach Hause.«

      »In gewisser Hinsicht ist das ja auch so«, erwiderte Sita. »Sameera, Vikram und die Kinder gehören zu unserer Familie, und ihr Dar-as-Salam ist doch schon lange so etwas wie unser zweites Zuhause geworden.«

      »Unser?« Überrascht sah Raja seine Frau an; dass er selber sich in dem Haus des Friedens daheim fühlte, war allgemein bekannte Tatsache, aber Sita hatte das noch nie so ausgesprochen.

      »Natürlich.« Sie schmiegte sich an ihn. »Dort leben meine didi und mein bada sher und


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