Zukunftsbeben Corona - was nun?. Josef Hülkenberg
beschlossen, um sich an der Ausbreitung zu hindern. Den Viren sind die Zahlen der Infizierten und Toten egal. Es waren Menschen, die auf das Erscheinen des Virus reagierten und für die ihnen anvertrauten Menschen Schutzmaßnahmen entschieden.
• Den Viren ist es egal, ob wir die durch ihr Erscheinen ausgelöste Situation zu einer Reflexion und Neuorientierung unseres zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens nutzen oder möglichst schnell wieder in alte Normalität zurückfallen.
• Den Viren ist es egal, ob wir beim virtuellen abendlichen Klatschen für die Corona-Helden bleiben, oder die neu entdeckte Systemrelevanz tariflich und gesundheitspolitisch bestätigen.
Den Viren ist all das egal. Es ist allein unsere Sache. An uns liegt es, wozu wir uns entscheiden, was wir entscheiden und wen wir entscheiden lassen. Zwischenmenschliches Handeln schafft Strukturen. Reflektiertes zwischenmenschliches Handeln kann die Strukturen schaffen, die wir wollen.
Allerdings ist der Weg nicht einfach. Der Weg in eine für Mensch und Natur tragtüchtige Zukunft ist zu bewältigen als Gemeinschaftsleistung aller Menschen, die sich mit der Vielfalt ihrer Kompetenzen aktiv in die Entwicklung einbringen.
Tragtüchtig – ein im Deutschen selten genutztes Wort. Wir sprechen zumeist von Nachhaltigkeit, doch wird dieser Begriff inzwischen inflationär gebraucht. Mit Nachhaltigkeit wird auch der vom dänischen Soziologen Helge Hvid eingebrachte Begriff „Bæredygtighed“ übersetzt. Tragtüchtig jedoch ist die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung des verwandten Begriffes.
Als tragtüchtig erweist sich ein System, wenn und solange es die ihm zugeschriebenen Eigenschaften unter Beweis stellt. Längst ist nicht alles tragtüchtig, was auch tragfähig war. Ein gegenwärtiges Musterbeispiel dazu liefert die Autobahnbrücke der A1 zwischen Leverkusen und Köln:
Die von den Bauingenieuren Schumann und Homberg entworfene Rheinbrücke wurde am 5. Juli 1965 eröffnet. Die Pläne der Bauingenieure basierten auf den Planungsvorgaben von 1959 und kalkulierten eine ausreichende Tragfähigkeit der Konstruktion ein. Vor der Freigabe für den Verkehr wurde die Brücke verschiedenen Belastungstests unterzogen. Damit wurde die geplante Tragfähigkeit auf ihre tatsächliche Tragtüchtigkeit geprüft. Erst der Nachweis der Tragtüchtigkeit erlaubte die Freigabe.
Alterungsprozesse, Materialmüdigkeit, ungenügende Wartung, vor allem aber das weit über die einstigen Planungsvorgaben angestiegene Verkehrsaufkommen führten zur mangelhaften Tragtüchtigkeit der Brücke, sodass seit November 2012 für Fahrzeuge auf der Brücke eine Tonnagebeschränkung von maximal 3,5 t gilt.
Zur menschengerechten und naturverträglichen Zukunft brauchen wir tragfähige Konzepte. In praktischen Projekten ist ihre Tragtüchtigkeit zu prüfen. Dann sind sie durch politische Entscheidungen allgemein zu verankern.
Alle Schotten dicht
Zerfällt Europa? Fällt Deutschland in die Kleinstaaterei früherer Jahrhunderte zurück? Die Pandemie fördert Grenzschließungen und bislang unwesentliche Grenzziehungen zwischen Bundesländern. Scheitert Europa am Föderalismus, weil die Einzelstaaten ihre Schotten dicht machen?
Ist es nicht eher ein gesundes Zeichen, dass es noch Schotten gibt, die sich bei Gefahr schließen lassen? Schlägt ein Schiff Leck, sichern geschlossene Schotten vor dem Untergang, weil die Schadstelle abgeschottet werden kann. Brandschutztüren gehören zur Sicherheitsstruktur größerer Gebäude, damit eventuelle Brandherde nicht ungehindert auf das ganze Haus übergreifen können. Eierkartons oder Flaschenkästen sind nicht nur gute Transportmittel, sie schützen die Waren auch vor unsachgemäßen Transport.
Wer die Schotten dicht macht, sichert die Gesamtheit vor der Schadensausbreitung. Kluge Kapitäne lockern die Schotten erst, wenn und soweit das Leck abgedichtet ist. Allerdings haben sie einen Vorteil gegenüber heutigen Politikern in der Pandemie: das eindringende Wasser ist sichtbar, spürbar und macht sofort nasse Füße. Das Virus, das unserer Gesellschaft ein Leck geschlagen hat, ist zwar totgefährlich, doch unsichtbar. Da steigt die Ungeduld der Passagiere und so mancher ruft zur Meuterei auf der Titanic auf.
Selbst wenn sich unter dem Druck der „Meuterer“ einzelne Politiker in den Wettbewerb um den Preis des coolsten Landesvaters begeben, sie belegen damit die Qualität dezentraler Systeme. Organisationen, auch Staatswesen sind stabiler und resilient, strukturieren sie sich dezentral, angepasst an den jeweiligen Lebensraum der Menschen. Kooperationen und Koordination zwischen den Einheiten fördern und stärken das Gesamtsystem. Subsidiarität ist der Begriff, der dafür in den Lehrbüchern steht.
Leben in Koexistenz mit Corona
Gegen ein Virus und die dadurch ausgelöste Epidemie oder gar Pandemie sind Wut und Empörung sinnlos. Da mag sich mancher über mangelndes oder überzogenes Krisenmanagement empören. Auch die Konsequenzen eines sinnvollen und effizienten Krisenmanagements mögen persönlichen Unmut bewirken. Wer mag schon gern auf unbestimmte Zeit zu Hausarrest, Ausgangssperre, Versammlungsverbot und Homeoffice verpflichtet werden?
Die aktuellen Einschränkungen gehen nicht nur aufs persönliche Gemüt, sie beeinträchtigen lieb gewordene, bei Dauer auch notwendige Versorgungsketten und analoge soziale Netze. Private Feiern, Besuche bei Freunden, Besuche von Theater und Kino, Besprechungen mit Kollegen entfallen oder werden in die virtuelle Welt des Internet verlagert.
Die Ansteckungsgefahr des Virus Covid-19 reduziert unseren gesellschaftlichen Umgang auf ein sozial und psychologisch unzulängliches Minimum. Jeder Tag eingeschränkter Grundrechte verstärkt die psychischen Folgen. Dabei mögen hoffentlich viele Bürger diese Beschränkungen als Verlust betrachten. Doch besteht auch die Gefahr der Gewöhnung an derartige behördliche Maßnahmen. Dann könnte es ein leichtes sein, auch andere politische Krisenfälle durch Außerkraftsetzung bestehender Rechte anzugehen.
Unmut oder Empörung sind keine adäquate Antwort auf diese Herausforderung. Vielen Mitbürgern gelingt es, die vorgegebenen Einschränkungen mit konstruktiver Energie anzunehmen und mit geändertem Sozial- und Konsumverhalten dem Leben neue Qualität zu geben.
Dazu ein typisches Alltagserlebnis: die Warenauslage beim Bäcker war in der Vielfalt sehr eingeschränkt. Doch fand ich alles, was mir ein gutes Frühstück sicherte. Bemerkung der Fachverkäuferin: „Corona trägt dazu bei, dass die Kunden auch mit weniger zufrieden sind.“
Re-Gnose – keine Angst vor Wandel
Begründete Wahrscheinlichkeiten geben Orientierung zur Auswahl nächster Schritte in unbekanntem Gelände. Solche Wahrscheinlichkeits-Aussagen kennen wir als Prognosen.
Die Vielzahl der prognostischen Möglichkeiten und die häufig sich widersprechenden Szenarien lösen allerdings oft Irritationen oder gar Ängste aus. Derartige Ängste können gemildert werden durch Rückblicke auf frühere ähnliche Situationen, auf überstandene Krisen und wie es sich seinerzeit ergab und entwickelte. Eine andere in der Visionsarbeit bewährte Methode ist der Rückblick aus einer sich vorgestellten Zukunft. Im Kontext der Corona-Krise brachte der Trendforscher Matthias Horx diese Methode mit seiner Wortschöpfung Re-Gnose ins öffentliche Bewusstsein. In seinem am 19.3.2020 erschienenen Essay „Die Welt nach Corona“ lädt er seine Leser ein, sich gedanklich in ein Café im Herbst 2020 zu versetzen, um sich rückblickend zu wundern, wie wir die Krise überstanden. Eine interessante Denkübung, die Ängste vor den anstehenden Wandlungsprozessen nehmen kann. Diese Übung kann staunen lassen, wie wir innerhalb weniger Wochen behördlich verfügte Abstandsbestimmungen, Hygieneregeln im öffentlichen Miteinander und massive Einschränkungen verfassungsrechtlich geschützter Grundrechte hinnahmen und in unseren Alltag integrierten.
Solche Rück-Blicke verringern dann Ängste, wenn sie aus einer optimistischen Position gemacht werden. Mit dieser Methode wird jedoch nicht erarbeitet, welche Zukunft uns erstrebenswert ist und wie wir sie erreichen könnten.
Versetzten wir uns mit Horx gedanklich in ein Straßencafé im Herbst 2020, könnten wir hocherfreut mit Johannes Mario Simmel formulieren und mit Milva singen: „Hurra, wir leben noch!“7. Bei Cappuccino, Rotwein oder Pernod könnten wir nachdenken, was uns