Ganz für Familie. Erwin Sittig
ihrer Eltern wohnte. Sie war damals aus Protest mit ihrer Schwester unter die Treppe gezogen, ohne dass sich darunter eine Kammer befand. Jeder, der daran vorbeilief, sah sie dort liegen. Sie hatten ihr Bettzeug geschnappt und schliefen dort auf den Fliesen, bis sich ihr Vater erbarmte und den Umbau des Kinderzimmers in Angriff nahm.
Stolz hatte ihre Mutter immer wieder davon berichtet.
Aber heute war sie erwachsen und hatte Mühe, die Sprache der Kinder zu verstehen.
Hanna hatte keine Lust, es ihrer Mutter nachzumachen und ebenfalls unter die Treppe zu ziehen. Es wiederholte sich ohnehin schon alles im Dorf, so dass auch diese Wiederholung sie langweilen würde.
Missgelaunt schlenderte Hanna die Treppe hinunter. Ganz leise war der Ruf ihrer Mutter ans Ohr gedrungen, dass das Frühstück fertig sei. Ein magischer Ruf, der etwas Freude erhoffen ließ, falls es heute etwas Besonderes zum Naschen gäbe.
Vorsichtig lugte sie um die Ecke, um den Frühstückstisch zu mustern. Die Kinnlade fiel hinunter und mit diesem entstellten, langen Gesicht marschierte sie in die Küche ein. Wieder gab es gesundheitsbewusstes Essen. Hanna konnte den übertriebenen Ernährungstick ihrer Mutter nicht verstehen.
Obst, Körnerbrot oder brötchen, Müsliriegel, Bienenhonig und Milch, das waren die Sachen, die bei keinem Frühstück fehlten.
Langweilig. Immer nur das Gleiche. Hannas Anregung, mal Schokolade, ein paar Gummibärchen oder wenigstens etwas anderes in der Richtung auf den Tisch zu stellen, überhörten sie genauso, wie ihren Wunsch, das Fenster abzudichten.
„Was ziehst du für ein Gesicht“, beschwerte sich ihre Mutter. „Du könntest so hübsch sein, wenn du etwas lächeln würdest.“
„Ich ziehe kein Gesicht“, konterte Hanna. „In meinem Zimmer zieht es. Vielleicht hat es auch an meinem Gesicht gezogen. Dafür kann ich nichts.“ Und sie schob zusätzlich die Unterlippe vor, wobei sie den Honig anstarrte.
Hanna merkte sofort, dass ihre Mutter sie wieder nicht verstanden hatte, oder besser gesagt, es nicht wollte.
„Soll ich dir ein Honigbrötchen schmieren?“, hörte sie ihre Mutter, die den Blick auf den Honig zum Anlass nahm, vom Thema abzulenken.
„Ich mag diesen Honig nicht. Ich mag nur Schokohonig.“
„Leider gibt es keine Schokobienen, mein Schatz, sondern nur Honigbienen.“
„Es gibt sehr wohl Schokobienen. Es gibt ja auch Schokokühe.“
„Die Kühe sind ja auch gescheckt und geben darum Milch und keinen Honig. Hast du schon mal eine gescheckte Biene gesehen?“
Doch so leicht war Hanna nicht auszutricksen. Sie war immerhin schon sechs Jahre alt und würde nächstes Jahr zur Schule kommen.
„Es gibt aber Zebras, die sind auch gestreift und geben Milch.“
„Aber keinen Honig.“
„Aber die gescheckten Bienen könnten den Schokohonig geben.“
Jetzt verlor ihre Mutter doch langsam die Nerven, während ihr Vater nur amüsiert vor sich hin grinste.
„Wenn du mir eine gescheckte Biene zeigst, kriegst du auch deinen Schokohonig, aber solange isst Du den Honig von den gestreiften Bienen. Und jetzt ist Schluss mit der Diskussion!“
„Eine lebendige?“
„Ja, eine lebendige. Was soll ich dir schmieren?“
„Ein Honigbrötchen.“
Schlagartig besserte sich Hannas Laune. Das würde sicher nicht schwer sein, eine gefleckte Biene zu finden. Bloß weil ihre Mutter noch keine gescheckte Biene gesehen hat, bedeutete das lange nicht, dass es sie nicht gäbe. Ihre Eltern hatten nicht mal Zeit, sich um ihr undichtes Fenster zu kümmern, da würde ihnen eine fleckige Biene schon gar nicht auffallen und wenn sie gleich auf ihrer Nase säße. Außerdem gibt es zum Beispiel Kreuzottern, von denen sie ebenfalls nie eine gesehen haben.
Die Erwachsenen waren schon albern. An Kreuzottern glauben sie, doch an gescheckte Bienen nicht.
Aber nicht mehr lange. Hanna wird sie finden, die Bienen mit Flecken drauf und dann würde sie endlich ihren Schokohonig bekommen.
Den ganzen Tag lief Hanna im Dorf herum, schaute in jede Blüte, in jeden Strauch und untersuchte jede Ecke, wo ein leises Summen zu hören war. Es waren aber immer diese blöden, gestreiften Bienen. Langweilig. Hanna wäre aber nicht Hanna, wenn sie jetzt schon aufgeben würde. Vermutlich waren sie etwas scheu, oder sie ernähren sich von anderen Sachen. Na klar, schließlich sollen sie ja Schokolade produzieren und keinen ollen Honig, den jeder hat. Vielleicht sollte sie dort suchen, wo die braungescheckten Kühe leben. Die fressen bestimmt nicht das Gleiche, wie die schwarz-weiß-gescheckten. Sicherheitshalber rief sie weiterhin ein paar Mal nach den Schokobienen, aber sie wurde von ihnen sicher genauso wenig verstanden, wie von ihren Eltern.
Sie hatten vor einiger Zeit einen Ausflug gemacht, der sie etwas weiter weggeführt hatte. Die Richtung wusste sie noch. Dort gab es diese braunen Kühe, die angeblich Schokomilch herstellen.
Der Weg war weit, die Zeit knapp. Sie suchte sich ein altes Marmeladenglas heraus, stach mit Papas Schraubenzieher einige Löcher in den Deckel und stopfte es zusammen mit ein paar Bananen und einigen Brötchen in ihren Rucksack. Dann schwang sie sich auf ihr Fahrrad und radelte davon.
Zum Glück lebte sie nicht im Gebirge, dann wäre es bestimmt eine kurze Reise geworden, aber so ging es gut voran. Die Sonne strahlte, als würde sie Hanna für ihre tolle Idee belohnen wollen und der Wind kraulte ihr langes Haar, was fast schöner war, als das Streicheln von Mama und Papa. Vielleicht empfand sie es nur so, weil ein wahnsinnig spannendes Abenteuer auf sie wartete und sie ihrer Mutter beweisen kann, dass es Schokobienen gibt. Am meisten freute sie sich auf den Schokohonig, der bald jeden Tag, auf dem Frühstückstisch, den dummen alten, langweiligen, gelben Honig auslachen würde.
Hin und wieder rief sie nach den Schokobienen, in der Hoffnung, dass eine von ihnen ihre Sprache spräche und zufällig, wie sie, einen kleinen Ausflug macht. Doch sie war nicht traurig, als niemand antwortete, denn sie war noch weit von ihrem Ziel entfernt.
Hanna schoss an den alten, roten Backsteinhäusern vorbei und winkte den Omas, Opas und Kindern zu, die sich davor tummelten, und wurde noch fröhlicher, wenn ihr alle freundlich zurückwinkten. Und obwohl die es gar nicht wissen wollten, rief sie ihnen zu, dass sie auf dem Weg sei, die Schokobienen zu suchen, was die Menschen mit einem ausgelassenen Lachen belohnten.
Nachdem sie schon ein paar Stunden gefahren war, rief ihr ein altes Mütterchen zu:
„Warte Kleines, du brauchst nicht weiter zu suchen, ich habe eine Schokobiene. Wenn du willst, kannst du sie haben.“
„Ja?“, Hanna konnte ihr Glück nicht fassen. Sie bremste so kräftig, dass sie fast gestürzt wäre, und kehrte zum Haus der alten Frau zurück, die inzwischen hinter der Tür verschwunden war. Aufgeregt kramte sie ihr Marmeladenglas hervor und schraubte schon den Deckel ab, um ihren Schatz darin zu verstauen.
Doch die Enttäuschung war riesengroß, als die Frau mit einer kleinen Schokoladenbiene auftauchte, die in goldenes Papier eingewickelt war und schwarze Streifen auf dem Körper aufwies. Wenn sie wenigstens gefleckt gewesen wäre, hätte sie ihren Eltern zeigen können, dass auch andere Menschen gescheckte Bienen kennen - aber so war sie gar nichts Wert. Das Mütterchen verstand nicht, dass das Mädchen ohne ihre Nascherei weiterfuhr und vor sich her murmelte: „Die ist ja gestreift. Ich hasse gestreifte Bienen.“
Die gute Laune war dahin. Die Sonne wurde lästig, da sie wegen der Anstrengungen zu schwitzen begann. Der Wind hätte besser von hinten pusten sollen, um sie anzuschieben. Alle waren gegen sie. Aber jetzt erst recht. Hanna ahnte, warum die Erwachsenen keine Schokobienen kannten, weil sie nicht daran glauben wollen. Den lieben Gott hatte auch noch keiner gesehen und trotzdem erzählten Oma und Opa und manchmal auch Mama von ihm. Sie suchen sich einfach aus, was ihnen gefällt und da sie Schokohonig nicht gern essen, glauben sie nicht an Schokobienen. Genau so wird es sein. Sie ärgerte sich,