Ende offen. Peter Strauß
Entscheidung initiiert. Vergleichen Sie einmal, mit welchem Gefühl Sie zum Zahnarzt oder zum Fußball, Tennis oder Joggen gehen! Es treiben überwiegend die Menschen Sport, die von ihrem Instinkt und ihren Trieben dazu bewegt werden, und das sind überwiegend jüngere Menschen und häufiger Männer als Frauen. Und die wenigen, die sich aus einer Vernunftentscheidung heraus im Fitnessstudio anmelden, sind die liebsten Kunden der Studios, denn sie schließen meist ein Abo für ein Jahr ab und kommen dann nur zwei, drei Male. Wandern, Spielen, Sport treiben, Shoppen gehen oder Reisen befriedigen unser Bedürfnis nach Jagen, Sammeln, Revierkampf und Nomadentum. Auch wenn sie rationalen Nutzen haben, so ist die Ratio nicht der alleinige Auslöser. Allgemein könnte man sagen, dass die meisten Freizeitbeschäftigungen auch der Befriedigung von Trieben dienen, die aufgrund unserer Lebensweise zu kurz kommen.
Frauen haben meist mehr Freude am Shoppen als Männer, da ihre Rolle in unserer Frühgeschichte eher die der Sammler war – das wissen wir seit dem Theaterstück „Caveman“.67 Wenn Shoppen nur dazu diente, sich Dinge anzuschaffen, die einem nützen, würde äußerst selten jemand etwas anschaffen, was sich schon beim Auspacken zu Hause als nutzlos erweist oder uns nicht mehr gefällt. Aber wir alle kennen das Gefühl, etwas gekauft zu haben und den Kauf schon nach kurzer Zeit zu bereuen. Wie viele Dinge werden nur ein, zwei Male benutzt und nach einigen Jahren weggeworfen! Das ist ein starker Hinweis darauf, dass wir hier mehr den Trieb des Sammelns befriedigen und der tatsächliche Nutzen der gekauften Sachen höchstens eine Teilursache des Kaufs ist.68
Stress und Faulheit
Menschen hatten vor Beginn unserer Zivilisation als Jäger und Sammler sicher auch Stress, wenn sich ein Wolfsrudel in ihrer Nähe aufhielt oder wenn der Winter zu lang wurde und die Nahrung lange knapp blieb. Im Unterschied zu vielen berufstätigen Menschen heute hatten sie aber nicht tagtäglich ununterbrochen Stress. (Sonst würden wir uns bei Stress nicht so unwohl fühlen.) Etwas Ähnliches gilt für die Arbeit: Tiere müssen wie wir für ihr Auskommen „arbeiten“, aber kein Tier muss das rund um die Uhr tun. Alle Lebewesen auf der Erde können fast immer all ihre Bedürfnisse mit relativ geringem Aufwand befriedigen. Keine Katze jagt den ganzen Tag, keine Fliege fliegt von Kackhaufen zu Kackhaufen, keine Schnecke frisst rund um die Uhr Blätter. In Notsituationen wie harten Wintern, Dürreperioden und in entlegenen Winkeln der Welt oder in Ausnahmezeiten wie bei der Aufzucht der Jungen kommen einzelne Tiere an ihre Grenzen und sterben, obwohl sie ununterbrochen auf Nahrungssuche sind. Diese Phasen sind aber Ausnahmen. Arten, die ihre gesamte Zeit auf Nahrungssuche verwenden mussten, sind ausgestorben, als die erste Nahrungsknappheit eintrat. Solche Arten, die den ganzen Tag ums Überleben kämpfen müssen, sind nicht überlebensfähig, weil sie zu unflexibel sind. So sind alle Lebewesen mit überschüssiger Zeit ausgestattet. Dauerstress gefährdet die Arterhaltung, weil er mit erhöhtem Energieverbrauch verbunden ist. Müßiggang ist von der Natur eingeplant, und alle Tiere und auch wir Menschen sind daran angepasst. In der Steinzeit gab es immer lange Phasen, in denen genug zu essen zu finden war und man sich häufig ausruhen konnte. Wer sich kontinuierlich verausgaben muss, hat ein höheres Risiko, im unpassenden Moment keine Reserven mehr zu haben.
Die Evolution hat uns nicht so gestaltet, dass wir möglichst viel tun wollen, sondern dass wir das, was nötig ist, möglichst effizient tun wollen. Das Streben nach Nichtstun ist in uns angelegt, um uns ein Gegengewicht zu den Zwängen der Nahrungssuche zu geben, damit wir uns darum bemühen, dies möglichst effizient zu tun und es nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Zeiten der Erholung und des Nachdenkens sind wichtig für uns, und dafür wurde uns ein Streben nach Müßiggang eingepflanzt. Daher denke ich, dass wir für andauernden Stress nicht vorbereitet sind und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass wir darunter leiden und krank werden. Wozu hätte die Evolution uns auf Dauerstress vorbereiten sollen, wenn dieser normalerweise nicht vorkommt? Grundsätzlich ist der Mensch nicht für das ständige zielgerichtete Arbeiten und für die ständige Lösung großer Probleme geschaffen worden.
Viele Menschen arbeiten in ihren Berufen so, als sei dauernd Ausnahmezustand – manche freiwillig, manche gezwungenermaßen. Dieser immerwährende Notstand entsteht auch, weil der Wettbewerb von uns verlangt, dass wir unsere Arbeitsprozesse kontinuierlich straffen, damit Effizienz und Rendite ansteigen. Wer weniger oder langsamer arbeitet, gehört zu den Verlierern. Derzeit ist diese hohe Schlagzahl vielleicht von einem Teil der Menschen gewünscht, weil sie uns Vorteile wie den technischen Fortschritt bringt. Ich denke, die Mehrheit wünscht sich etwas anderes oder hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob auch ein Leben ohne diese dauerhafte Überanstrengung möglich sei. Der Wettbewerb in der Berufswelt führt leider dazu, dass derjenige die Latte für alle anderen höher legt, der bei den gefragten Eigenschaften am leistungsfähigsten ist. Dass alle über einen Kamm geschoren werden, wird der oben beschriebenen Unterschiedlichkeit nicht gerecht, lässt viele von uns im Berufsleben übermäßig verschleißen und verschwendet Potentiale, die unter anderen Bedingungen besser genutzt werden könnten. Unsere Arbeitswelt müsste nicht so sein, und wir könnten eine andere Lebensweise wählen, wenn wir das wollten, denn für die westliche Welt gilt, dass wir wesentlich mehr produzieren, als wir benötigen. Was wir wirklich zum Leben bräuchten, wenn wir uns auf Nahrungsbeschaffung und den Komfort des Mittelalters beschränken würden, könnten wir heutzutage in wenigen Minuten pro Tag erwirtschaften, und es wäre genug für die gesamte Menschheit da. Ein großer Teil unserer Anstrengung dient der Schaffung von Wohlstand und Fortschritt, der Befriedigung von Wünschen, dem Machtstreben, dem Geltungsdrang oder dem Besitzstreben.
Tiere zeigen ein solch unnatürlich hohes Maß an Anstrengung nur in Ausnahmesituationen, wir zeigen es ununterbrochen. Die große Zahl an Zielen, nach denen wir streben, von denen die meisten unnötig sind oder Zirkelschlüsse – „Ich arbeite mehr, damit ich mehr verdiene, damit ich mich von der Arbeit erholen kann oder mir etwas leisten kann, das mir das Leben erleichtert.“ – zeigen, dass wir nicht im inneren Gleichgewicht sind und auch gefühlsmäßig in einer ständigen Notsituation leben. Wenn die Natur von uns diese hohe Ausnutzung der Zeit gewünscht hätte, dann würden auch viele andere Tiere sich so verhalten, und auch wir hätten schon immer so gehandelt, weil es ja für die Arterhaltung sinnvoll wäre.
Ähnliches gilt für unsere Flexibilität, die in der heutigen Zeit stark beansprucht wird. Neolithische Menschen mussten sich nicht in kurzen Abständen immer wieder auf Neues einstellen. Ihr Leben lief über lange Zeiträume in bekannten Bahnen. Heute müssen sich viele Berufstätige vor allem aufgrund der technologischen Entwicklung, aber auch wegen eines Wechsels ihres Arbeitsplatzes oder Aufgabengebiets ständig an neue Bedingungen, Gruppen und Lebensräume anpassen. Dieses hohe Maß an geforderter Flexibilität laugt uns aus, weil uns die Evolution nicht dafür geschaffen hat. Im Leben früherer Generationen vor der Zivilisation gab es auch Phasen der Anpassung, aber meist nicht über mehrere Generationen hinweg, sondern zeitlich eng begrenzt und vor allem viel seltener.
Sexualität und außerehelicher Geschlechtsverkehr
Auch bei der Sexualität bringen wir aus unserer Geschichte Eigenschaften mit, deren Auswirkungen wir bei der Ausgestaltung unserer Gesellschaft nicht berücksichtigt haben. Die Lust ist unter den Menschen sehr ungleich verteilt – es gibt Monogame und Polygame, manche wünschen sich Sex mit vielen verschiedenen Menschen, andere wünschen sich mehrere Beziehungen, und ich schätze, ungefähr die Hälfte aller Menschen ist tatsächlich lebenslang monogam. Jedenfalls ist der Wunsch nach Sex und nach Häufigkeit, Dauer und Intensität ungleich verteilt. Es ist statistisch belegt, dass zwischen fünf und dreißig Prozent der Babys in den USA und Großbritannien Kuckuckskinder sind.69 Fremdgehen gehört zur Menschheit, selbst wenn dauerhafte Treue für die Mehrheit kein Problem darstellt.
Dass man sich zwischen Freiheit und Geborgenheit entscheiden muss, dass der, der viele wechselnde Bekanntschaften hat, weniger Geborgenheit bekommt, und dass der, der eine feste Beziehung hat, einen Teil seiner Freiheit einbüßt, ist vielen klar. Manche bemerken, dass sie auch in einer Beziehung den Wunsch nach Sex mit anderen haben, und ganz wenige gestehen sich das zu. Wieder andere haben diesen Wunsch gar nicht. Dass es nicht einen richtigen Weg gibt, dass die Vielfalt auch in der Sexualität ein Prinzip der Arterhaltung der Menschheit ist und dass unterschiedliche Menschen im Sinne der Evolution in Bezug auf die Sexualität unterschiedliche Rollen in der menschlichen Gesellschaft haben, ist meines