Bullenhitze. Volker Sebold
Bullenhitze
Volker Sebold
BULLENHITZE
von
Volker Sebold
Handlung und Personen sind frei erfunden und sind der Fantasie des Autors entsprungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2020
© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: wunderlichundweigand.de
Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05509-7 (Print)
978-3-429-05098-6 (PDF)
978-3-429-06490-7 (ePub)
„Gewalt ist stets ein Reich undurchdringlicher Dunkelheit, das wir vermessen, aber niemals vollständig verstehen können.“
Jacques Sémelin
RÜCKBLENDE
1
Der 16. März 1945 war vorüber. Der Main hatte die vergangene Zeit mit fortgenommen, um sie in einem fernen Meer zu ertränken.
Gebäudeskelette streckten ihre Gerippe wie klamme Finger in den Himmel, um Vergebung zu erlangen. Das „Tausendjährige Reich“ hatte Würzburg begraben. Fensterlose Löcher in den Hausruinen glotzten in eine ungewisse Zukunft. Die Festung thronte über den Brückenheiligen, die im Bombenhagel standhaft geblieben waren.
Durch Schutt, den der Bumerang des Terrors hinterlassen hatte, versuchten sich Trümmerfrauen ihre Wege zu bahnen. Sehnsüchtig danach, den Leichengeruch zu verdrängen und das Leben mit allen Poren aufzusaugen.
April 1953. Die Kälte des Winters war noch nicht gewichen. Die Amerikaner besetzten vakante Stellen mit entnazifizierten Deutschen oder solchen, denen es gelang, ihre Fahne in den Wind zu hängen.
Ein schmächtiger Junge, immer hungrig, lief fröhlich pfeifend durch die Straßen. Er blies eine dunkle Haartolle nach oben, kickte den Stein eines geschundenen Hauses vor sich her, während sein Schulranzen auf- und abwippte. Die Hände steckten in den Taschen einer Lederhose. Der Junge hatte gute Laune. Er war der Einzige mit einer Eins in Deutsch gewesen. Darauf war er mächtig stolz. Um seinen Hals baumelte ein Schlüssel.
Der Junge öffnete die Haustür, stieg die Stiegen der Holztreppe hoch bis unters Dach. Die Dielen knarzten unter seinem Schritt.
Kurz bevor er die Wohnungstür aufschloss, ging er noch schnell auf das Klosett im Flur, entließ einen Strahl und freute sich auf das Mittagessen. Wahrscheinlich gab es wieder Kartoffeln und Quark.
Vorsichtig steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er wollte die Mutter überraschen mit der Eins. Er tappte durch den kleinen Flur. Kein Essensgeruch. Er wunderte sich. Sein Mund formte „Mama“, als er innehielt. Geräusche, die er nicht kannte. Heftiges Atmen. Männliches Stöhnen. Er erschrak. Schlich weiter. Die Tür des Schlafzimmers war nur angelehnt. Er erkannte, über einen Stuhl gehängt, die Uniform eines Polizisten. Dann blickte er in die Augen seiner Mutter, die ihn ungläubig entrückt anstarrten. Er drehte sich um, rannte aus der Wohnung, durch die Straßen, zum Flussufer. Er weinte und wunderte sich, dass sein Körper immer noch Tränen übrighatte. Wo er doch schon so viele vergießen musste. Der Vater war im Krieg gefallen. Als ob es nur ein Hinfallen gewesen war. Die Sirenen. Der Luftschutzkeller. Die Bomben. In ihm war diese Angst, die ihn nie verlassen werden würde. Dafür war seine Mutter immer für ihn da. Ihre Nähe. Ihre Wärme. Sie war für ihn da. Nur für ihn.
Er spürte einen Stich im Herzen und verstand, dass er sie nun teilen musste. Mit einem fremden Mann. Den er nicht kannte. Nicht kennen lernen wollte. Wut stieg in ihm hoch und ließ die Pflanze Hass in sich keimen.
Ihn fröstelte. Er war zehn Jahre alt. Der Krieg macht einen älter. So spürte er schnell, dass sich im Leben schon wieder etwas Gravierendes verändern werden würde.
Als er Stunden später nach Hause zurückkam, war der Mann verschwunden. Der Blick der Mutter drang durch ihn hindurch, nagelt sich in die Wand. Apathisch schritt sie zu dem kleinen Radio, das auf der Anrichte stand. Sie drückte den elfenbeinfarbenen Knopf. Als swingende Musik der Amerikaner erklang, drehte sie ihren Körper, als sei er schwerelos. Das Kind hatte die Mutter so noch nie gesehen.
Auf dem Tisch lag eine Tafel Schokolade. Für ihn. Er ignorierte den Leckerbissen, ging in sein Zimmer und schloss sich ein.
Das Kind störte. Die Mutter und der Polizist gaben sich die Liebe, die sie in den schweren Zeiten schmerzlich vermissen mussten. Und sie waren nicht bereit, diese Liebe zu teilen. Schon gar nicht mit einem Kind.
Stillschweigend saßen die drei am Frühstückstisch. Der Junge zitterte, als er seine Tasse mit Kakao zum Mund führen wollte. Ein Schluck schwappte heraus, als er die Tasse am Mund ansetzte. Der Kakao besudelte sein Hemd und spritzte auf das Tischtuch. Vor Schreck ließ der Junge die Tasse fallen. Wie in Zeitlupe zerschellte sie auf dem Fußboden. Der restliche Kakao hinterließ eine hässliche braune Spur. Unvermittelt und wortlos schlug ihm der Polizist brutal mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Mutter schwieg. Sie stand auf, holte einen Putzlappen und wischte die Flüssigkeit auf.
„Wasch dich!“, flüsterte sie und schob ihren Sohn in Richtung Badezimmer.
„Dein Kind braucht mal eine anständige Erziehung! Hat keine Manieren, der Bengel!“, polterte der Mann.
Das Kind, ängstlich und unsicher, brachte schlechte Noten nach Hause. Bei den kleinsten Verfehlungen brüllte der fremde Mann den Jungen an. Als er es nicht mehr aushielt vor lauter Demütigungen durch den Erwachsenen und den Polizisten einen „Scheiß Nazi“ nannte, holte dieser den hölzernen Kochlöffel aus der Schublade, legte den Jungen übers Knie und prügelte solange auf ihn ein, bis er selbst außer Atem geraten war.
Wenn er seine Mutter flehend, mit verheulten Augen und tiefroten Flecken auf den Oberschenkeln anblickte, sah er nur ihre stumme Verzweiflung und Schwäche.
Der Junge wusste, dass der Mann immer wiederkommen würde. Wieder und wieder. Was hatte er nur, dass seine Mutter ihre Liebe so einseitig vergab? Er zog sich in sein Zimmer zurück und lernte zu schweigen. So oft es ging, verbrachte er die Zeit draußen. Er lernte wie besessen, da er merkte, dass sich seine Gedanken auf diese Art und Weise Freiheit zurückholten. Er betete, dass der Mann möglichst bald, für immer, verschwinden würde.
Nach einem Monat wurde sein Gebet erhört. Der Polizist war in eine üble Kneipenschlägerei verwickelt worden. Er hatte einen Soldaten der us-Armee schwer verletzt. Sein Faustschlag war so hart, dass der Amerikaner die Sehkraft des linken Auges verlor. Er wurde versetzt. Seine Mutter erfuhr die Geschichte von einem befreundeten Mann aus der Verwaltung. Sie nahm das Geschehen scheinbar regungslos hin. Es schien, als habe ihr der Vorfall überhaupt nichts ausgemacht.
Sie widmete sich wieder ihrem Sohn, als sei nie etwas geschehen.
2
Die Mutter lag zu Hause im Bett und konnte sich nicht mehr bewegen. Ein Schlaganfall hatte ihr die Bewegung und das Denken geraubt. Der Sohn, mittlerweile im erwachsenen Alter, kümmerte sich liebevoll um die alte Frau. Er brachte es nicht über das Herz, sie in ein Heim abzuschieben.
Schließlich starb sie. In der