B'tong. Roland Platte

B'tong - Roland Platte


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sind tief, hatte er sich eingestehen müssen, gemischt mit der Vorahnung, dass sie vielleicht noch mehr Geheimnisse in sich trug. Und eines davon kam dann, als sie zum Studieren zusammen in eine WG zogen. Eines Morgens wurde er von hohen, luftigen Tönen geweckt. Er war laut schimpfend auf gesprungen und musste feststellen, dass Sybille am offenen Fenster stand und den frühen Septembermorgen mit einem frischen Lied auf der Querflöte begrüßte.

      Aber warum nur kann sie n i e aus sich rauskommen?

      In den 14 Jahren ihres Zusammenlebens war sie immer ruhig geblieben, mit ihm, mit den Kindern, wohl in der Schule, in der sie arbeitete, immer, sogar dann und gerade dann, wenn er einen Koller hat und sich über etwas tierisch aufregt, bleibt ihr Blick ruhig auf ihn gerichtet, beinahe ausdruckslos, abwartend. Es macht ihn wahnsinnig.

      Und nun hat er DIE Erfindung des Jahrhunderts gemacht, und sie bleibt stoisch. Nicht zu fassen.

      Carsten schwenkt den Eiswürfel in dem Glaskolben, hebt schließlich das Glas, setzt es an und nimmt einen tiefen Schluck von der goldbraunen Flüssigkeit. Genüsslich seufzend, lässt er sich in seinen Bürostuhl fallen.

      Aber nun geht es ja darum, wichtige Schritte in die Wege zu leiten. Und dazu muss er jetzt allein sein. Deswegen ist er an diesem Sonntagmorgen ins Labor gefahren: um zu überlegen, mit einem guten Whiskey im Gaumen.

      Ohne Kinderlärm, ohne Spielsachen im Wohnzimmer, aber vor allem ohne den stillen Blick seiner Frau.

      4.

      Die Kinder kommen laut schreiend an den Wohnzimmertisch gelaufen, wo Sybille konzentriert die Notendiktate ihrer Musikschüler korrigiert.

      - Mama, Mama, Jako will mit den echten Holzkegeln spielen, aber dafür ist er doch noch zu klein.

      - Das ist gar nicht wahr. Ich bin nicht zu klein. Ich bin fast genauso groß wie du, du coole Kuh.

      - Siehst du, du bist doch zu klein. Das heißt gar nicht "coole" Kuh, wenn, dann heißt das "uncoole Kuh". Aber erstens sagt man das so nicht, sondern man sagt "dumme Kuh" und außerdem bin ich gar keine dumme Kuh. Aber du, du bist ein ganz kleiner, ganz dummer und ganz hässlicher Esel!

      Sybille schaut von ihrer Arbeit auf und betrachtet ihre Kinder, die jetzt um den Tisch herumlaufen, die stichelnde Schwester vorneweg, verfolgt von ihrem aufgebrachten Bruder. Keines ihrer Kinder ist nach ihr gekommen. Bei beiden hat sich wohl das männliche Saatgut Carstens durchgesetzt. Heißblütig, geradlinig, unmittelbar. Eigentlich schade. Niemand ist so wie sie. Wenigstens nicht in ihrem Bekanntenkreis. Auch nicht unter ihren Freunden und soweit sie zurückdenken kann, hat sie in ihrem Leben eigentlich nie jemand getroffen, der so ist, wie sie selbst.

      Das Eigenartige ist, das sie lange Zeit gar nicht wusste, wer sie war. Erst als sie im Gymnasium in ein Alter kam, in dem Jugendliche sich gegenseitig bewusst beobachten, miteinander kommunizieren, sich öffnen, da hatte man ihr gesagt, dass sie so ziemlich das eigenartigste Mädchen sei, das jemals auf diese Schule gegangen sei: Ein übergroßes Paar Augen, verbunden mit einem übergroßen Gehirn, das Ganze serviert mit einer Überdosis an Introvertiertheit.

      - Mama!

      Jana und Jako sind inzwischen stehengeblieben und rütteln ihre Mutter wach. Sie mögen es nicht, wenn Sybille 'steckenbleibt'. So nennen es die Kinder, wenn sie tagträumt oder auch einfach nur Löcher in die Luft schaut. Meistens hören sie dann von ganz allein zu streiten auf. Jana hat sogar einmal Carsten gebeichtet, dass Sie Angst habe, dass Mama eines Tages ganz 'steckenbleiben' würde. Hoffentlich bleibe ich eines Tages nicht wirklich stecken, seufzt Sybille.

      - Jaaaa, was ist denn? Ihr wisst doch, dass ich zu tun habe. Bis morgen muss ich diese Arbeiten korrigiert haben. Wollt ihr nicht noch ein bisschen im Garten spielen?

      - Nö. Wir haben Hunger. Wann kommt denn Papa wieder nach Hause? Habt ihr euch gestritten?

      - Nein, ihr wisst doch, dass wir uns nie streiten.

      - Ja, du nicht, aber Papa.

      - Ja, dann streitet eben Papa alleine.

      - Mama, kann man denn alleine streiten?

      - Schluss jetzt, ihr spielt noch eine halbe Stunde und um 7 gibt es dann Abendessen, mit oder ohne Papa. Essen können wir ja alleine, oder nicht?

      Sybille vertieft sich wieder in ihre Korrekturarbeit und muss sich wiederholt über einen Schüler ärgern, der sonst immer gute Arbeit geleistet hat. Einer ihrer Lieblingsschüler an der Musikschule. Sie liebt Schüler wie diesen, wenn diese nicht (nur) von einer ewig eintönigen Intuition getrieben werden, die zumeist nichts anderes als eine verzerrte Reproduktion der letzten Hits hervorbringt, sondern wenn Schüler Musik mit Intelligenz betrachten, und vielleicht sogar mit mathematischem Verständnis. Sie ist ohnehin der Ansicht, dass Musik mehr mit Mathematik als mit Intuition, Sinnlichkeit oder Gefühl zu tun hat. Oder anders ausgedrückt, wenn die mathematische Grundstruktur einer Komposition stimmt, dann kann das zuweilen Hochgefühle verursachen.

      Plötzlich muss sie stocken. Der Schüler hat zwischen zwei Noten eine Art dicke Gurke gezeichnet. Oder sollte es einen Penis darstellen? Sie hält das Notenheft unter die Lampe. Eine zufällige Strichkombination oder ein männliches Geschlechtsteil? Zufall oder Provokation? Provokation oder ungezügeltes Verlangen eines jugendlichen Pubertierenden? Hat es im Unterricht irgendwelche Anzeichen, Vorläufer eines solchen Verhaltens gegeben?

      Sie versucht sich die letzte Unterrichtsstunde zu vergegenwärtigen, kann sich aber an keinen auch noch so unscheinbaren Vorfall oder Blick oder sonst etwas erinnern. Ohne eine Entscheidung zu treffen, legt sie die Notenhefte beiseite und ruft Jana und Jako zum Abendessen in die Küche.

      5.

      Carsten läutet die große Schiffsglocke, die über dem meerblauen Gartenzaun hängt. Er bewegt den wuchtigen Klöppel schon eine ganze Weile hin und her. Der Klang gefällt ihm, hat ihm schon immer gefallen, seitdem er Andros kennengelernt hat. Andros ist – auch wenn in Deutschland aufgewachsen - griechischer Herkunft, daher das viele Blau in Garten und Haus: der Zaun, die Haustür, die Schlagläden. Wobei Carsten sich nicht sicher ist, ob Andros jemals Griechenland zu Augen bekommen hat.

      Carsten gefällt es auch, mit dem Glockenläuten den Nachbarn von Andros ein wenig auf den Wecker zu fallen. Er fühlt sich wieder obenauf, er hat in seinem Labor am Schreibtisch eine Strategie ausgebrütet und ist sich jetzt sicher, den richtigen Plan für sein weiteres Vorgehen zu besitzen. Und diesen Plan will er sich von Andros absegnen lassen, da ja von Sybille eine Zusage anscheinend nicht zu erwarten ist. Und Andros ist ja Künstler, oder Philosoph, Carsten weiß es eigentlich gar nicht richtig. Manchmal sieht er Andros an einer Skulptur arbeiten, manchmal schreibt dieser aus Carstens Sicht unverständliche Artikel in irgendwelchen philosophischen oder literarischen Fachzeitschriften. Also ist er Schriftsteller, denkt sich Carsten. Im Grunde genommen ist es ihm eigentlich egal.

      Andros besitzt auf jeden Fall die notwendige geistige Höhe, die Reichweite seiner Erfindung nachvollziehen zu können. Und das macht Andros zu einem richtigen Freund. Außerdem hat er ja Andros noch gar nichts von seiner bahnbrechenden Schöpfung erzählt. Am liebsten hätte er es in die ganze Welt hinausposaunt: "Ich, Carsten Krause, habe den Betonverflüssiger erfunden!" Aber jetzt muss er sich erst einmal an seinen Plan halten, und der sagt ihm, vorsichtig mit seiner neuen Erfindung und der Formel umzugehen. Am besten ist es wohl, dass es so wenig Leute wie möglich wissen, bis er den notwendigen Rückhalt, die erforderliche Finanzierung gefunden hat.

      Endlich geht die – blaue - Haustür auf und es erscheint ein ungefähr 45-jähriger Mann mit schwarzgrauen zotteligen Haaren und mit einem schwarzgrauen zotteligen Bart. Er erblickt Carsten und schiebt sich und seinen fülligen Bauch aus der Haustür hinaus.

      - Carsten, was soll denn dieses Gebimmel, hab' schon genug Ärger mit den Nachbarn.

      - Andros, komm lass mich endlich rein, ich hoffe, du bist mal ausnahmsweise alleine.

      Mit einem großen, altmodischen Schlüssel öffnet ihm Andros das Gartentor.

      - Ich bin fast immer allein, das weißt du doch. Du bist ja aufgedreht, was ist denn los? Nicht mal am Sonntag hat man seine Ruhe.


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