Unerreichbares Leben. Benigna Gerisch

Unerreichbares Leben - Benigna Gerisch


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Gerda sah ihn nur stumm und mitleidig an, was ihn nur noch mehr erboste. Mitleid war eine verachtende Geringschätzung. Sie fing an zu packen, eine kleine Wohnung am Stadtrand hatte sie sich längst besorgt. Vor einigen Jahren hatte seine Frau einen Kurs für ›Kreatives Schreiben‹ an der Volkshochschule belegt. Das hatte er insgeheim immer ein wenig belächelt. Auch wenn ihre Freundinnen meinten, sie schreibe sehr schön, gelesen hatte er nie etwas von ihr. Das Schöngeistige und Gefühlige war nicht so seins. Er las die Tageszeitung und schaute um 20 Uhr die Nachrichten. Danach studierte er noch ein paar Akten, schaute sich Tatortfotos in speckigen, längst abgegriffenen Klarsichthüllen an, die modernen Geräte mied er wie der Teufel das Weihwasser, und ging dann früh zu Bett.

      Die Kinder waren schon lange aus dem Haus. Seine Tochter hatte Economics in London studiert, das Studium hatte er ihr finanziert, war dann aber bei irgendeiner NGO gelandet, so recht wusste er nicht, was sie da tat. Sie hatte weder einen Freund noch Freunde, sie hatte das Essen. Elisabeth aß nicht, sie fraß, das hatte er mit Abscheu und Ekel bei den immer weniger werdenden Weihnachtsessen in den letzten Jahren bemerkt. Er ekelte sich vor seiner Tochter, nicht vor seinen Leichen. Die waren so sanft, still, demütig und ohne jedes Begehren. Elisabeth sprach auch nicht, sondern sie stopfte das Essen in sich hinein. »Wundert dich das?«, hatte seine Frau ihn einmal verzagt und traurig gefragt. Zumindest habe sie diese Disziplinlosigkeit nicht von ihm, hatte er geantwortet. Manchmal durchfuhr ihn der Gedanke, wie es wäre, wenn er Elisabeth bei sich auf dem Tisch liegen hätte. Welches Skalpell er wohl bräuchte, um sich durch diese Fettmassen zu schneiden, und welche Todesursache er wohl diagnostizieren würde. Unglückliches, verwirktes Leben kam ihm nicht in den Sinn, eher: schamlose Maßlosigkeit. Auch sein Sohn machte eigentlich gar nichts, schon gar nichts Vernünftiges. Er hatte ein paar Studiengänge begonnen, dann aber nach kurzer Zeit gelangweilt wieder abgebrochen. Nun sei er in den USA ins Filmgeschäft eingestiegen, das hatte er bei einem seiner spärlichen Besuche zu Hause mit etwas zu viel Überheblichkeit erzählt. Eigentlich kam er auch nur oder rief an, wenn er von ihm Geld brauchte. Das könne der Vater doch als Vorauszahlung seines Erbes verbuchen. Was denkt der eigentlich, empörte sich Viktor, dass ich mich in meinem ehrbaren Beruf krummlege, damit der Herr Sohn sich einen sonnigen Lenz machen könne? Und dann dieser blasierte Zug um den Mund seines Sohnes, als würde er ihn und die Welt verhöhnen. Unerträglich war das. Meist gab er auf Druck von Gerda aber nach, was ihn noch mehr verstimmte. »Aus dem wird schon noch was«, versuchte sie ihn dann zu beschwichtigen. Nun also hatte Gerda sich getrennt und rasch die Scheidung eingereicht. Ohne Klagen und Vorwürfe und ohne Tränen hatte sie die Wohnung mit ihren Sachen geräumt, ihm das Nötigste zum Leben dagelassen. Er brauchte ja auch nicht viel. Ihre generalstabsmäßige Organisation des Auszuges hatte ihn beeindruckt. Eigentlich liebte er sie, wobei er nicht so genau wusste, was das eigentlich war: lieben. Er brauchte sie, auf eine ihm unerklärliche Weise, und nun war sie nicht mehr da. Aber mehr als den Schmerz, fühlte er sich verraten und verkauft. Das war also der Dank für seine jahrzehntelange, harte Arbeit.

      Er hatte sich im Alleinsein eingerichtet. Gelegentlich ging er, zum Leidwesen der Kollegen und des neuen Chefs, ein arroganter Nichtskönner, ins Institut und vertiefte sich in seinem Zimmer in noch unbearbeitete Akten. Zudem plagte ihn immer mal wieder der Gedanke, er hätte bei einer Obduktion vielleicht doch etwas übersehen.

      Wenn er zu Hause blieb, dann streifte er durch die ihm fremde, unbekannte Wohnung. Er versuchte, sie wieder in Besitz zu nehmen und die hellen Stellen an den Wänden, wo Bilder von seiner Frau abgenommen worden waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen.

      Bei einem dieser Streifzüge durch die Leere der Wohnung, hatte er sie dann entdeckt. Sie saß auf dem Balkon im dritten Stock des Hauses gegenüber. Also auf Augenhöhe. Sie war jung, er schätzte sie auf knapp dreißig Jahre alt. Sie war von einer unaufdringlichen Schönheit und Anmut, die ihm den Atem verschlug. Wie vom Donner gerührt, blieb er stehen. Er schaute sie an, ihr Profil. Sie saß einfach nur da und rauchte. Ihr dichtes schwarzes, glattes Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten gebunden, ein paar Strähnen waren herausgefallen und fielen ihr ins Gesicht.

      Dann senkte sie ihren Blick und schien zu lesen. Er konnte nicht erkennen, ob eine Zeitung oder ein Buch. Dann blickte sie wieder in die Ferne und rauchte weiter. Schließlich erhob sie sich und verschwand in der Wohnung. Sie kehrte mit einer kleinen Gartenschere zurück und fing an, vertrocknete Blüten abzuschneiden. Üppig wuchsen die Pflanzen in ihren Kästen, die den gesamten Balkon einfassten. Nun sah er sie fast von vorn. Ein ausdrucksvoller, schöner Mund, elegant geschwungene Augenbrauen, eine kleine, zarte Nase, ein langer, schmaler Hals, wie bei einer Ballerina. Plötzlich erschrak er, da er nicht wusste, wie lange er schon so gestanden und ob sie ihn wohl bemerkt hatte. Er versuchte, sich von ihrem Bild zu lösen, er sollte seinem Tagwerk nachgehen. Aber er wusste nicht mehr, welches das war. Er könnte ins Institut gehen, aber danach wäre sie womöglich verschwunden. Er versuchte, sich zu bewegen, fühlte sich aber wie angewurzelt. Er gab sich einen Ruck und eilte in die Küche, um sich einen Kaffee einzuschenken, der inzwischen schal und kalt geworden war. Mit der Tasse in der Hand, hastete er zurück zu seinem Aussichtspunkt. Sie war immer noch da und mit den Blumen beschäftigt. Welch eine Hingabe und Ruhe, so versunken in ihre Tätigkeit, wie er, wenn er seine Leichen sezierte. Er zog sich einen Stuhl heran, weil sein Rücken wieder zu schmerzen begann und trank ein paar Schlucke von der bitteren Brühe, seine Kehle war ganz trocken geworden. Sie sammelte nun alle abgeschnittenen Blüten ein und fing an, die Pflanzen zu gießen. Auch das tat sie mit einer ergebenen Sorgfalt, die ihn rührte. Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr und blickte auf. Er erschrak zu Tode, aber ihr Blick blieb nicht an seinem haften, sondern verlor sich irgendwo in der Weite des Himmels. Dann wandte sie ihm den Rücken zu und ging zurück in die Wohnung. Er blieb einfach sitzen und wartete. Aber sie kam nicht zurück. Er musste kurz eingenickt sein, denn als er hochfuhr, sah er sie wieder. Sie hatte sich ein Kissen in den Rücken geschoben und las. Was tat sie wohl im Leben, was arbeitete sie, oder studierte sie noch? Aber eigentlich konnte er sich gar nicht vorstellen, dass sie normalen Dingen des Alltags nachging. Das passte nicht zu ihr. Vielleicht war sie, wie er, aus der Welt gefallen, einem Blumenmeer entsprungen, einem Gemälde oder Märchen entstiegen, um ihn zu entzücken. Genau das könnte ihre Berufung sein. Das war alles kein Zufall, alles sollte so kommen. Aber was denn eigentlich? Er war wie von Sinnen, so kannte er sich nicht, so fühlte und dachte er nicht. Er war ganz außer sich, was war nur los mit ihm? So hatte er nie für Gerda gefühlt, selbst am Anfang nicht.

      Obgleich auch Gerda einst eine Schönheit gewesen war. Allmählich aber war alles an ihr erloschen. Er schob es auf das Alter und hatte sich nie gefragt, ob es etwas mit ihm zu tun gehabt haben könnte. Sie waren ein Paar geworden, dann Eltern und waren in die Jahre gekommen, sie waren ein Team, gut eingespielt, wie am OP-Tisch griff alles wortlos ineinander.

      Aber das hier war etwas völlig anderes. Es war Schicksal, so ein Unsinn, begann er sich zu maßregeln, was redest du da. Vielleicht ist dir das Nichtstun doch zu Kopfe gestiegen, vielleicht auch die Einsamkeit. Du solltest jetzt einfach aufstehen und wieder normal werden, zum Einkaufen gehen, die Zeitung lesen, irgendetwas tun. Aber plötzlich durchfuhr es ihn, dass er dies nicht tun könnte, da er sie beschützen müsste, ja, das war es. Seine Aufgabe war es, sie zu beschützen. ›Du bist ja nicht mehr ganz bei Trost‹, dachte er, so hatte ihn seine Mutter oft gescholten. Als Kind dachte er, das hätte etwas mit Trösten zu tun. Irgendwie glaubte er das immer noch. Seine Mutter aber meinte wohl, er habe den Verstand verloren, er sei verrückt geworden. Ja, vielleicht wurde er grade verrückt. Aber er wusste nun, was zu tun war. Jemand, der nicht bei Trost war, der den Halt verlor, der musste getröstet werden. Er war einzig dazu da, um sie zu trösten und zu beschützen.

      Alles hatte so kommen müssen: sein Leben für die Toten, die Trennung von Gerda und nun diese engelsgleiche Gestalt, die ihm geschickt worden war. Marie taufte er sie, er wusste nicht warum, aber plötzlich war dieser Name in ihm aufgetaucht. Hell und klar. »Also Marie«, murmelte er halb laut vor sich hin, »hier bin ich und werde dich beschützen.«

      Von nun an lebte er in seinem Wohnzimmer. Er hatte sich dort einen Schlafplatz auf einem Sessel eingerichtet. Anfangs ging er noch eilig zum Einkaufen, aber das schien ihm inzwischen zu riskant, er hatte ja eine wichtige Mission zu erfüllen, mit aller gebotenen Sorgfalt, Präzision und Disziplin. Von nun an bestellte er sich das Essen per Telefon. Einmal bat er einen Lieferanten sogar, für ihn Bargeld


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