Das ABC der Menschheit. Matthias Heine
folgen eindeutig einer alphabetischen Ordnung.
Zwar sind die Inschriften nach wie vor nicht lesbar, weil das Fehlen von Wortzwischenräumen und die unklare Richtung der Schrift das Lesen erschwert. Einige Forscher vermuten, dass es sich noch um ein Gemisch von frühen Buchstaben und Bildzeichen handelt. Aber wenn man davon ausgeht, dass die Leserichtung von rechts nach links geht, so wie bei späteren semitischen Schriften, dann beginnt eine Inschrift mit dem Wort rb (»Anführer«) – gesprochen rebbe und verwandt mit Rabbi –, die andere mit dem Wort ’l (»Gott«) – gesprochen el.
Die Inschriften sind um 1800 v. Chr. eingraviert worden, vielleicht ein Jahrhundert früher, vielleicht später. Aber seitdem man sie kennt und analysiert hat, gilt als wahrscheinlich, dass das Alphabet um 2000 v. Chr. erfunden wurde – und zwar in Ägypten. Das frühe Datum kann man daraus schlussfolgern, dass sich die Form ägyptischer Schriften und auch der militärischen Felsinschriften im Laufe der Jahrtausende verändert hat. Paläographie ist eine der wichtigsten Hilfswissenschaften der Ägyptologie: Bestimmte Zeichen und Formen ordnet man ganz eindeutig bestimmten Zeiten und Epochen zu. Die Buchstaben der Wadi-el-Hol-Schrift, wie sie mittlerweile genannt wird, um sie von der jüngeren protosinaitischen Schrift abzugrenzen, beruhen ganz klar auf hieroglyphischen und hieratischen Formen, die im Mittleren Reich um 2000 v. Chr. gebräuchlich waren.
Am verräterischsten ist der m-Buchstabe, viermal taucht in den zwei Inschriften eine Wellenlinie auf. Sie ist unverkennbar der Vorläufer des phönizischen Buchstaben mêm (»Wasser«). Sie ähnelt einem ägyptischen Zeichen, das in vielen Felsinschriften belegt ist. In beiden Symbolen verläuft die Wellenlinie vertikal. Doch normalerweise verlief sie bei den Ägyptern horizontal. Es gab nur eine kurze Zeit um 2000 v. Chr., in der die Ägypter vertikale Wellenlinien schrieben. Zu dieser Zeit muss der Buchstabe aus der Wadi-el-Hol-Schrift entstanden sein.
Faszinierend ist auch, dass die Wadi-el-Hol-Schrift einen Buchstaben hat, der sich aus der Tierfesselhieroglyphe entwickelt hat und der in der protosinaitischen Schrift und allem, was aus ihr folgt, nicht mehr vorkommt. Dafür findet sich dieses Zeichen in alten südarabischen Alphabeten – wie dem sabäischen, dem minäischen und dem frühäthiopischen. Das ist ein Beweis dafür, dass sich Idee und Form des Alphabets schon früh von Ägypten aus in verschiedene Himmelsrichtungen ausgebreitet haben. Die Wadi-el-Hol-Schrift ist wahrscheinlich der gemeinsame Vorläufer sowohl der südarabischen Schriften als auch der nördlichen semitischen Schriften, aus denen sich alle späteren Alphabete entwickelt haben.
Die Schreiber im Wadi el-Hol waren sicher Menschen, die die Ägypter Amu nannten, also »Asiaten«, wobei sich »Asien« in der ägyptischen Vorstellungswelt natürlich auf Nahen und Mittleren Osten beschränkte. Ganz in der Nähe der beiden alphabetischen Inschriften steht eine weitere Botschaft im Sandstein – diesmal klar ägyptisch. In ihr wird ein gewisser »Bebi, General der Asiaten« erwähnt. Daneben stehen die Namen von Menschen, die als wpwty-nswt (»königlicher Bote«) und als sjn.w (»Expresskuriere«) bezeichnet werden. Darnell und mit ihm der überwiegende Teil der Alphabethistoriker geht davon aus, dass der »Anführer«, der sich in der Wadi-el-Hol-Schrift verewigt hat, ein Offizier oder Stammeschef unter Bebis Kommando war. Der andere Soldat, der einen Gott anruft, dürfte eine ähnliche Position innegehabt haben. Im erwähnten Interview mit Sacks sagt Darnell: »Es scheint mir sicher, dass General Bebi seinen Namen geschrieben hat und zwei seiner Semiten ihren.«
Das ist das Milieu, in dem das Alphabet entstand. Solche semitischen Hilfstruppen, wie sie Bebi befehligte, hatten ägyptische Militärschreiber dabei. Die Asiaten, die die Kuriere unterstützten, waren, so vermutet Darnell, »vielleicht Soldaten mit ihren Familien, die der ägyptischen Wüstenpolizei zur Seite standen, vielleicht die Wasserlöcher sauber hielten und Lebensmittel und Unterkunft für die Kuriere und andere Patrouillen bereitstellten. Die Ägypter dürften die Asiaten aufgrund ihrer speziellen Fähigkeiten eingestellt haben; aufgrund ihrer Erfahrung waren sie imstande, ein mobiles Lager in einer Wüstenumgebung zu verwalten. Sie waren also keine Sklaven, sondern Wüstenexperten, die mit den Ägyptern zusammenarbeiteten. Die ägyptische Schrift erlernten sie nicht in Schulen, die Tempeln angeschlossen waren, sondern von den Heeresschreibern.«
Andere Kandidaten für die Erfindung einer akrophonischen Alphabetschrift zur Schreibung westsemitischer Sprachen bringt der österreichische Ägyptologe Helmut Satzinger ins Spiel: »Der Schöpfer der ägyptosemitischen Schrift muss mit der ägyptischen Hieroglpyhenschrift gut vertraut gewesen sein. Das waren aber nur ägyptische Priester sowie höhere Beamte. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die ägyptosemitische Schrift eine Schöpfung des offiziellen Ägypten war, deren Zweck es war, die Administrationen, in die Asiaten involviert waren, zu erleichtern.«
Darnell dagegen hält die Schrift für eine gemeinschaftliche Schöpfung von ägyptischen Militärschreibern und semitischen Söldnern: Erstere schrieben ihre Zeichen auf längst zu Staub gewordene Papyri. Die aus Asien stammenden Untergebenen nahmen einige dieser Zeichen und ordneten ihnen nach dem akrophonischen Prinzip Lautwerte zu, mit denen Wörter aus ihren eigenen Sprachen begannen. Gemeinsam schufen sie so das Alphabet.
Die purpurroten Buchstaben
Als Phönizier bezeichneten die Griechen fremde Händler, die aus der Levante zu ihnen kamen und Luxuswaren anboten, beispielsweise solche wie den wertvollen Krater – ein Gefäß zum Mischen von Wein –, den Achill in der Ilias als Preis für den Sieger des von ihm veranstalteten Wettrennens aussetzt. »Sidoner voller Kunstsinn hatten’s schön gefertigt. Phoiniker aber hatten’s mitgebracht über das dunkle Meer hin« (XIII, 741–745, Übersetzung Joachim Latacz).
Ihren Namen Phoinikes (»die Purpurroten«) trugen sie, weil sie mit Purpur (phoinix), dem Sud der Purpurschnecke Hexaplex trunculus, gefärbte Stoffe verkauften, die kostbarer als Gold waren. In die gleiche Richtung weisen die Wörter Kanaan und Kanaaniter, die aus der Bibel bekannt sind. Dieser Volksname existierte schon in der Bronzezeit und leitet sich wahrscheinlich vom akkadischen Wort kinahhu ab, das – wie das griechische phoinix – »purpurrot« bedeutete. Gemeint waren das westliche Syrien und Palästina. Die Phönizier im engeren Sinne lebten in der Küstenebene des heutigen Staates Libanon, ihre Städte waren Sidon, Arados, Berytos (das heutige Beirut), Tyros und Byblos. Von dort legten diese innovativen Seeleute mit rundbauchigen Schiffen zwischen dem Persischen Golf und dem Atlantik große Entfernungen zurück. Sie kauften Waren aller Art, die sich anderswo mit Gewinn verkaufen ließen. Aus eigener Produktion konnten die Händler nicht nur Purpurstoffe und feinstes Kunsthandwerk anbieten, sondern auch den Mangelrohstoff Holz. Sie waren schon fähig, sich an den Sternen zu orientieren; so war die Navigation auch auf hoher See möglich. Dafür nutzten sie den zweithellsten Stern Kochab im Sternbild Kleiner Bär (oder auch Kleiner Wagen), der ihnen als Polarstern galt. Noch die Römer nannten ihn Stella Phoenicia.
Unser Bild von den Phöniziern ist durch die negativen Klischees der Griechen und vor allem der Römer geprägt, die einen langen Überlebenskampf gegen die Stadt Karthago ausfochten, die von jenen weit entfernt, am Südrand des westlichen Mittelmeers, gegründet worden war. Die Punier, wie die Römer sie nannten, galten schlimmstenfalls als verschlagen – punica fides (»punische Treue«) war ein Synonym für Unehrlichkeit –, bestenfalls als allzu geschäftstüchtig. Das Bild wird noch freundlich überspitzt gepflegt in der Karikatur des phönizischen Kaufmanns Epidemais aus Tyros in Asterix als Gladiator: Er nennt seine Ruderer »Gesellschafter«, die er mit einem Vertrag übertölpelt hat, und gesteht Asterix und Obelix später, dass er sie eigentlich im nächsten Hafen als Sklaven verkaufen wollte.
Der wesentliche Beitrag der Phönizier zur Weltkultur ist die Weiterentwicklung und Konsolidierung des Alphabets. Lange hielt man sie gar für die Erfinder der Buchstabenschrift, aber wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, ist diese Theorie mittlerweile gründlich widerlegt. Allerdings ist ihre Schrift möglicherweise auch nicht direkt aus der protosinaitischen Schrift entstanden, sondern die weite geographische Verbreitung der uralphabetischen Inschriften spricht dafür, dass man an verschiedenen Stellen mit leicht unterschiedlichen Varianten der Buchstabenschrift experimentierte.
Die ältesten phönizischen Schriftproben sind die Monumentalinschriften der Könige