Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
um tausende Meilen über dem Meer in einem Lande, das sie zeitlebens nie sehen werden, Paläste und gigantische Klöster zu bauen. In gewissem Sinn ist dieser erste, rasch niedergeschlagene Aufstand der Goldgräber gegen die portugiesische Autorität schon das erste Vorspiel des großen Unabhängigkeitskampfes, der in derselben Stadt, an derselben Stelle ein halbes Jahrhundert später seine niedergehaltenen Kräfte neuerdings entladen wird. Denn das Gold als die sichtbarste, münzbarste Wertsubstanz hat Brasilien zum erstenmal das Selbstbewußtsein seines Reichtums gegeben; von der Stunde seiner Entdeckung an betrachtet sich das Land nicht mehr als der Verschuldete und Dankespflichtige gegen sein Ursprungsland, sondern als freies Subjekt, das seine einstige Verpflichtung bereits in hundertfachen Werten an die Heimat zurückerstattet hat.
Im ganzen dauert dieser Goldtaumel nicht länger als fünfzig Jahre. Dann versagt – eine Katastrophe für Portugal – diese kostbare Quelle. Aber immer wiederholt sich in der Geschichte Brasiliens das gleiche merkwürdige Phänomen: was für sein Mutterland, für Portugal, ein Unglück bedeutet, wird für die Kolonie zum Gewinn. Über Portugal bricht, sobald die Goldsendungen ausbleiben, eine Finanzkrise schwerster Art herein, die Pombal nicht bemeistern kann und die im weiteren Verlauf die Austreibung der Jesuiten und seinen eigenen Sturz zur Folge hat: Brasilien wird dagegen eher stabilisiert. Denn durch die Auffindung des Goldes ist eine neue Verschiebung des Gleichgewichts und damit eine erste Konsolidierung in der Menschenverteilung Brasiliens eingetreten. Abermals sind große Massen in das bisher schwachbesiedelte Innere verpflanzt worden, und selbst als das Schwemmgold im Sande abgeschöpft ist, ziehen es die einstigen Goldgräber vor, die hier keine Bleibe und auch sonst keine Heimat haben, statt an die Küste zurückzuwandern, in der mata, dem fruchtbaren Tiefland von Minas Gerais, sich anzusiedeln. Damit ist abermals – wie vordem São Paulo – eine Provinz bevölkert und der bisher ungenützte Strom des São Francisco als lebendige Verkehrsader gewonnen. Immer mehr wird Brasilien aus einer bloßen Küste ein wirkliches Reich.
Aber wichtiger als alles gewonnene Gold ist für Brasilien das mächtig erstarkte Gefühl seines eigenen Wertes. Teilweise in Kämpfen wider die von Norden gegen den Maranhão vordringenden Franzosen, teilweise durch kühne Streifung ins Unbekannte und fortschreitende Besiedlung des Westens, hat sich die Bevölkerung aus eigener Kraft das Flußgebiet des Amazonas, Mato Grosso, Goiaz, Rio Grande do Sul und eine Reihe anderer Provinzen gewonnen, deren jede einzelne räumlich so groß oder größer ist als die allmächtigen europäischen Staaten, wie Spanien und Frankreich und Deutschland; zu einer Zeit, da das gleiche umfangreiche Nordamerika kaum ein Sechstel seines Bodens kennt, hat Brasilien sich bis nahe zu den heutigen Grenzen ausgebreitet, und längst ist das eigene kleine Mutterland kein Maßstab mehr, denn eingezeichnet in die immensen Gemarkungen Brasiliens, erscheint Portugal klein wie ein Tintenfleck auf einem riesigen Tuch. Wie dann 1750 im Vertrag von Madrid endgültig die Grenzen der Kolonie gegen die spanischen festgesetzt werden sollen, muß Spanien ärgerlich anerkennen, daß Brasilien längst nicht mehr auf die veralteten Linien des Vertrags von Tordesillas zurückgeschoben werden könne und durch das stärkere Recht seiner kolonialen Leistung alle papierenen Paragraphen zunichte gemacht hat. Langsam beginnt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts Europa, beginnt das Land selbst zu begreifen, wie groß, wie mächtig, wie einheitlich es in den scheinbar ereignislosen Jahren auf seine stille, beharrliche Art geworden ist. Und je mehr es seiner Kindheit, seiner finanziellen Abhängigkeit entwächst, um so mehr muß es als Ungehörigkeit und Ungerechtigkeit empfinden, daß seine freie Entwicklung durch die unpolitische und überdies ungeschickte Vormundschaft Portugals immer noch in kleinlicher Weise gehemmt wird.
Denn um möglichst viel Gewinn aus seiner Kolonie herauszuholen, umstrickt die portugiesische Krone Brasilien mit einem Netzwerk von Gesetzen, das dem jungen Land die von Kraft strotzenden Adern vom Welthandel abbindet; die Regierung erlaubt zum Beispiel gerade dem Lande, wo die Baumwolle frei und üppig ihre Heimat hat, keine eigene Fabrikation von Textilwaren, um Brasilien zu zwingen, die Fertigware von Lissabon zu bestellen, und derartige Verbote häufen sich bis ins Willkürliche und Stupide. So wird 1775 durch ein Dekret verboten, Seife zu erzeugen, es wird verboten, heimischen Alkohol zu keltern, um die Konsumenten zu nötigen, mehr portugiesischen Wein zu trinken. Der Gouverneur weigert sich, in seinem Palast jemanden zu empfangen, der nicht aus portugiesischen Stoffen gefertigte Kleider trägt. Einem Lande, das schon zweieinhalb Millionen Einwohner besitzt, wird untersagt, Reis anzupflanzen, im Jahrhundert der Philosophie und Aufklärung seinen Städten nicht der Druck von Zeitungen und nicht einmal von Büchern erlaubt, kein Brasilianer darf ein fremdes Schiff kaufen, kein Ausländer in Rio leben und kaum einer dort landen. Brasilien wird abgesperrt wie der Privatgarten des Königs von Portugal. Selbst im neunzehnten Jahrhundert wird noch, als Humboldt für seine großartige Schilderung, die Brasilien erst wahrhaft für die Welt entdeckt, das Land bereisen will, den Behörden vertraulicher Befehl erteilt, wenn ein certain baron Humboldt sich einstelle, ihm die möglichsten Schwierigkeiten zu bereiten.
So ist es leicht zu begreifen, mit welcher leidenschaftlichen Aufmerksamkeit die Brasilianer den Unabhängigkeitskampf Nordamerikas verfolgen, das von einer viel milderen und klügeren Hüterschaft sich gewaltsam losreißt und seine Freiheit erzwingt. Die früheren Former und Meister ihrer Lebensform, die Jesuiten, die im Lande immer unbeliebter wurden, je mehr sich ihre Organisation ins Kommerzielle und Geschäftliche wandte und mit den einheimischen Kolonisten konkurrierte, haben auf Befehl Pombals das Land verlassen müssen, aber damit ist den Brasilianern keineswegs Macht und Recht über ihr eigenes Schicksal gegeben; die Vizekönige verwalten das Land ausschließlich zum Vorteil Portugals und nehmen wenig Anteil an seiner selbständigen Entwicklung. Langsam, heimlich, aber unaufhaltsam bildet sich eine antiportugiesische Partei oder vielmehr eine, die damals noch leicht mit der bloßen Gewährung der Gleichberechtigung und freiem Welthandel zu beschwichtigen wäre. An sich ist der Brasilianer weder radikal noch revolutionär; mit einer leichten und geschickten Hand wäre das Land noch ohne Schwierigkeiten festzuhalten. Aber für seine Wünsche hat man in Lissabon kein Verständnis, und selbst Pombal, der Portugal vergebens zu aufgeklärteren und zeitgemäßeren Anschauungen zu veranlassen suchte, gewährt trotz einzelner ökonomischer Verbesserungen Brasilien nicht die volle organische Entfaltung seiner Kräfte; die als Palliativ, als Beruhigungsmittel von ihm befohlene Austreibung der Jesuiten, die unter heftigem Widerstand der ihnen anhängenden Siedlungen sich vollzieht, erweist sich in keiner Weise dem Lande als moralischer Vorteil oder als materieller Gewinn; im Gegenteil, die Feindseligkeit, welche die Kolonisten bisher diesen geistlich-kommerziellen Organisatoren entgegenbrachten, wendet sich jetzt geschlossen gegen das Mutterland. Schon vordem waren mehrmals in Minas Gerais, in Bahia und Pernambuco einzelne Aufstände gegen die Fiskalbeamten Portugals aufgeflackert, aber, weil nicht gemeinsam verbunden, mit Gewalt niedergeschlagen worden. Meist waren es bloß lokale Revolten gegen eine neue Besteuerung oder Beschränkung gewesen, impulsive Ausbrüche einer zusammengerotteten Masse und darum der Autorität Portugals nicht wirklich gefährlich. Erst zu Ende des Jahrhunderts setzt eine voll ihres Zieles bewußte, von Idealismus getragene nationale Bewegung ein mit den Verschwörern der Inconfidência Mineira.
Die Inconfidência ist eine Verschwörung junger Leute und darum eine romantische, mit kühnen Reden und schwungvollen Gedichten, ungeschickt in der Vorbereitung und doch vom Geist der Zeit getragen in ihrer Entschlossenheit. 1788 hatte eine Gruppe junger brasilianischer Studenten an der Universität Montpellier lebhaft die Notwendigkeit einer nationalen Befreiung diskutiert und sogar schon mit Jefferson, dem Pariser Gesandten der Vereinigten Staaten, Fühlung gesucht, um ihrer Sache die Hilfe der nordamerikanischen Republik zu gewinnen. Eine wirkliche Aktion kam nicht zustande, aber die Idee blieb lebendig, und sofort wie einige dieser Studenten dann nach Ouro Preto, der damals geistig regsamsten Stadt, zurückkehrten, formt sich eine revolutionär gesinnte Gruppe unter Führung des aus Coimbra eben eingetroffenen José Álvares Maciel und Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen »Tiradentes« der vielbesungene Held dieser ersten wirklich brasilianischen Freiheitsbewegung geworden ist. Es sind durchwegs Männer geistiger Berufe, die sich in diesen geheimen Konventikeln vereinigen, Ärzte, Dichter, Juristen, Magistratspersonen, dieselbe neuaufsteigende bürgerliche Schicht, die zur gleichen Stunde in Frankreich die Revolution führt – Männer, die gerne diskutieren und sich an Büchern und Ideen begeistern, Männer, die gerne sprechen und diesmal zu viel sprechen. In ihrem Enthusiasmus sehen sich die Verschwörer, noch lange ehe sie die Verschwörung richtig geplant und organisiert haben, schon am