Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4). Stefanie Taschinski
Wie jetzt? Lilly wollte es sich nicht bequem machen, sondern der kleinen Dame sofort erzählen, was ihre Eltern beschlossen hatten. Sie sah von Chaka, der unter der Zeltdecke hing, zur kleinen Dame, die wieder die Haarschnecken von ihren Ohren anhob.
»Wir lauschen dem Regenlied. Sehr hübsche Melodie. Findest du nicht?«, fragte die kleine Dame.
Lilly hörte vor allem das Brausen und Tosen all der Worte, die sich über den Tag in ihr aufgestaut hatten. Worte, die ins Freie drängten.
»Ich …«, sagte sie.
Im nächsten Augenblick begann Chakas Schwanz, hin und her zu pendeln.
»Einsundzwei, einsundzwei«, summte die kleine Dame. »Einsundzweiunddreiundvier …?« Sie blickte zu dem Chamäleon. »Chaka, bitte entscheide dich.«
Lilly setzte sich auf die Lehne des Ohrensessels. Draußen klatschte witsch ein Zweig auf das Zeltdach. Die kleine Dame schien sich ganz in das Rauschen und Prasseln des Regens einzuspinnen. »Hörst du es, Lilly? Hörst du es?«, wisperte sie.
»Hm, es regnet«, sagte Lilly.
»Die Stimme des Regens ist höchst geheimnisvoll«, erklärte die kleine Dame.
Na, wenn die kleine Dame das meinte. Für Lilly hörte es sich nur wie ganz gewöhnlicher Regen an.
»Die Stimmen«, fuhr die kleine Dame fort, »wechseln sich ab. Der Regen, der Wind, die Vögel, sie singen alle dasselbe Lied.«
»Ach ja?« Lilly wollte jetzt nichts von Liedern hören. Nicht einmal von Liedern der kleinen Dame. Aber diese ließ sich nicht beirren und winkte Lilly zu sich.
»Chaka und ich können es noch nicht beweisen, aber wir glauben, dass es das Brezelhaus-Lied ist.«
Nun war Lilly doch verblüfft. Sie blickte auf die großen und kleinen Klekse im Notizbuch der kleinen Dame. »Was meinst du mit Brezelhaus-Lied? Das kann man aufmalen?«
Die kleine Dame schüttelte den Kopf und seufzte. »Oh nein. So einfach ist es nicht.« Sie notierte etwas. »Ich versuche, den Klang jeder einzelnen Stimme aufzumalen. Das hier ist der Regen.« Sie malte einen weiteren Kringel. »Leider ist es sehr, sehr schwer, seinen Klang einzufangen.« Sie blickte Lilly an. »Du musst wissen, jedes Haus melodiert auf seine ganz eigene Weise. Auch das Brezelhaus.«
Lilly fühlte, wie es sich in ihrer Brust ganz eng zusammenzog. »Dabei kann ich dir nicht helfen«, sagte sie. »Wir … wir ziehen nämlich bald aus dem Brezelhaus aus.«
Die kleine Dame machte ein verdutztes Gesicht. »Noch einmal flugs zurückgespult. Hast du gerade gesagt, ihr zieht aus dem Brezelhaus aus?«
Lilly nickte.
»Aber wieso, weshalb, warum wollt ihr euer Nest wechseln?«
»Mama und Papa meinen, unsere Wohnung ist zu klein. Vor allem, wenn jetzt das Baby kommt.«
Die kleine Dame schüttelte den Kopf. »Hat man je so einen Unsinn gehört! Jeder vernünftige Adler, der seinen Horst gefunden hat, bleibt. Jede kluge Meise, die ihren Nistkasten bezogen hat, bleibt. Und welcher Glückspilz könnte so töricht sein, sein Nest im Brezelhaus aufzugeben?«
»Keiner!«, rief Lilly und fuhr aufgeregt fort. »Karlchen und ich wollen ja auch nicht weg. Nie, niemals. Aber Mama meint, unsere Wohnung platzt aus allen Nähten. Und Papa besichtigt neue Wohnungen.«
Die kleine Dame sprang auf. »Aber euer Nest ist nicht zu klein. Es ist groß, was sage ich, es ist riesengroß!«
»Das sehen Mama und Papa anders.«
»Dann brauchen sie wohl eine Brille. Allein in euer Kinderzimmer würde mein Zelt zweimal passen. Und ihr habt überdies noch eine Schuh-Spiegel-Diele, ein Sofa-Sessel-Zimmer, eine Back-Pixmentier-Küche, ein Zähneputz-Badezimmer und einen Schlafschrank für deine Eltern!«
»Ich weiß!« Lilly atmete tief durch. »Und wir haben auch noch den Verschlag im Keller und eine Ecke auf dem Dachboden und ich bin sowieso jeden Nachmittag bei dir.«
»Siehst du«, sagte die kleine Dame. »Wenn wir deinen Eltern erst einmal gezeigt haben, wie riesengroß euer Nest ist, wollen sie ganz bestimmt nicht mehr umziehen!«
Lilly atmete auf. Was für ein Glück, dass die kleine Dame sogar in den allerverzwicktesten Lagen Rat wusste. Und mit einem Mal war das Gefühl, unter einer Käseglocke zu stecken, verschwunden.
Rote Wangen
Als Lilly kurze Zeit später aus dem Torweg gelaufen kam, spiegelte sich ein frisch gewaschener blauer Himmel in den Pfützen vor dem Brezelhaus. Lilly spitzte die Lippen und pfiff einfach drauflos. Die Töne tanzten und kieksten federleicht. Kie-kie-tü.
Ebenso leicht, wie Lilly sich nach ihrem Besuch bei der kleinen Dame fühlte. Sie hüpfte über eine der großen Pfützen. Wie gut, dass die kleine Dame sich so hervorragend mit Nestern auskannte! Gemeinsam würden sie Mama und Papa zur Vernunft bringen. Die zwei verhielten sich in letzter Zeit wegen der Schwangerschaft vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber so klug wie eine Meise waren sie ganz bestimmt.
»Hallo, Lilly!«, rief da jemand.
Lilly landete mit einem Fuß in der Pfütze, dass es nur so spritzte, und tauchte aus ihren Gedanken auf. Von der anderen Straßenseite kam Frau Schnacksel, Mamas Kollegin aus der Backstube, mit ihrem Hollandrad auf sie zu.
Mit ihrem roten Regenmantel, dem grünen Tuch im Haar und den vielen Lachfältchen um die Augen sah sie aus wie eine frisch gepflückte Erdbeere. Wie schon bei ihren letzten Besuchen brachte Frau Schnacksel auch heute wieder eine Tasche voll Arbeit aus der Backstube mit. Seit Mamas Bauch so groß geworden war, dass sie kaum noch stehen konnte, kam Frau Schnacksel jeden Tag, um mit Mama alle wichtigen Dinge zu besprechen: Welche neuen Rezepte wollten sie ausprobieren? Welche großen Bestellungen standen für die nächsten Wochen an? Lilly wusste, dass Mama und Frau Schnacksel immer sehr viel zu entscheiden hatten. Dann musste die Führung für Mama und Papa durch ihr »Wohnungsnest« eben warten, bis Frau Schnacksel wieder gegangen war.
Klickerdiklack machten Frau Schnacksels Absätze auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Klickerdiklack schob sie ihr Rad den Bordstein hoch und auf Lilly zu.
»Ich habe eine Überraschung dabei«, verkündete sie und hob ihre große Tasche aus dem Korb.
»Himbeertörtchen?«, fragte Lilly.
Frau Schnacksel lächelte ihr zu. »Hm, hm. Du wirst schon sehen.« Sie lehnte ihr Rad gegen die Hauswand und ließ das Schloss zuschnappen. »Ist deine kleine Schwester auch zu Hause?«
Lilly kramte ihren Haustürschlüssel aus dem Rucksack. »Nee, die ist heute Nachmittag bei Jakob.« Lilly hatte den Schlüssel noch nicht in das Schloss gesteckt, da ging plötzlich die Tür des Brezelhauses von innen auf. Lilly wich zwei Schritte zurück. Da kam schon wieder die Leberwurst! Hilfe. Den Besen in der rechten, eine Sprühflasche und einen Lappen in der linken Hand, blinzelte er zu Frau Schnacksel. »Darf … äh, darf ich der Dame die Tür aufhalten?«, brummelte er, während seine Ohren so rot anliefen wie Frau Schnacksels Regenmantel.
Lilly glaubte schon, sie hätte sich verhört. Aber der Hausmeister hielt tatsächlich die Tür auf.
»Danke schön«, sagte Frau Schnacksel überrascht und wollte durch die Haustür gehen. Doch da machte der Hausmeister einen Schritt nach vorn und ließ die Sprühflasche um seinen Zeigefinger sausen, als sei sie ein Revolver. Pfff-pfff-pfff püsterte er die Haustür ein und wischte sie mit einem gekonnten Schwung ab.