Liturgisches Husten. Angela Traute Maria Boeckh
dem Sarg und den schwarzen Männern kam, bewegte sich auch Frau Meller mehr als sonst. Von ihrem milden Lächeln ging eine unbestechliche Autorität aus. Kein Zweifel: Sie WAR wichtig.
Als ich später selber bei Beerdigungen spielte, versuchte ich ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Es gelang mir nicht. Sie war inzwischen betagter und ihre milde Autorität war von einer leichten Müdigkeit überschattet. Eines Tages kam sie nicht mehr.
Jahre vergingen. Wieder spielte ich bei Beerdigungen, diesmal freiberuflich als Aushilfe, mal hier, mal da. Noch immer beschäftigte mich Frau Meller. Ich beobachtete die Sargträger und konnte nichts entdecken, was eine Bewachung derselben notwendig gemacht hätte.
Eines Tages traf ich jemanden aus der „alten Zeit“. Er kannte Frau Meller ...
... da hatten eines Tages die Sargträger zwischen ihren Auftritten zu kräftig zur Flasche gegriffen. Schwankenden Schrittes näherten sie sich dem Sarg, räumten die Blumen zur Seite, lallten ihr „In Jottes Nam’n“ und stolperten mit dem Sarg aus der Tür. Mit Hilfe des Pfarrers kamen sie gerade noch zur Grabstelle. Dort landete der Sarg hochkant in der Grube.
Diesem Ereignis verdankte Frau Meller ihren Arbeitsplatz. Kein Zweifel: Sie WAR wichtig!
Aber auch ohne Alkohol kann das flüssige Element so mancher Feierlichkeit groteske Züge verleihen; z.B. wenn der Himmel sich öffnet – nicht etwa, um den Verstorbenen aufzunehmen, sondern um kannenweise Regen auf die Trauergemeinde zu schütten. Ganz ohne Promille rutschte ein Sargträger aus und landete hinter dem Sarg in der Grube, die panische Witwe fast noch hinterher. Hier hätte selbst Frau Mellers milde Macht versagt.
In Gottes Namen
Wer sind diese Männer, die Tag für Tag mehr oder weniger feierlich die Särge unserer Angehörigen von der Kapelle auf den Friedhof tragen und uns die Berührung mit den Toten abnehmen?
Vordergründig betrachtet haben die Sargträger nicht viel zu tun: Am Ende der Feier betreten sie die Kapelle oder den Kirchraum, die Gemeinde erhebt sich. Sie räumen die Blumen zur Seite oder auf einen extra Wagen, stellen sich rechts und links neben dem Sarg auf und sprechen ihr gemeinsames „In Gottes Namen“. Die Gesichter sind ernst, meist etwas nach unten geneigt, die Stimmen sind tief. Das leise Poltern im Tonfall klingt wie ein Grollen des Abgrunds. Dann heben sie den Sarg an und tragen ihn hinaus.
Der Moment hat etwas Endgültiges.
Immer wieder erlebe ich die starke Diskrepanz zwischen der auf die Persönlichkeit des Verstorbenen und der Angehörigen ausgerichteten Feier und dem Auftreten dieser wildfremden Männer, die den Sarg wegtragen. Ihr Erscheinen erinnert an die Gestalt des Charon2, des Fährmanns, der in der griechischen Mythologie die Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt geleitet. Besonders eindrücklich ist dieser Zusammenhang noch in Venedig zu beobachten, wo man inmitten des regen Treibens auf den Kanälen plötzlich ein kleines, mit schwarzen Stoffen behängtes Schiff sehen kann, auf dem ein Sarg, umgeben von sechs schwarz bekleideten, schweigenden Männern, zur Toteninsel San Michele gefahren wird – als würde das Jenseitige eine Furche in die Zeitlichkeit ziehen.
Neben diesem erfahrbaren, überpersönlichen Aspekt geht von der Präsenz der Sargträger aber auch oft etwas Plumpes und Antiquiertes, manchmal wieder etwas sehr Anrührendes oder auch Komisches aus.
Der Ritus wackelt und wird nicht selten zum fragwürdigen Schauspiel.
In ländlichen Gegenden heißt es noch heute: Sechs Freunde musst du haben. Das heißt: Sechs, die deinen Sarg eines Tages zum Friedhof tragen können.
Warum tragen die Angehörigen die Särge ihrer Verstorbenen eigentlich nicht selber?
2 Im „Wörterbuch der Mythologie“ heißt es: „Charon, der Fährmann in der Unterwelt: eine, wie es scheint, spätere Vorstellung, wahrscheinlich aus Ägypten gekommen, wo die Sitte herrschte, alle Toten, welche eines ehrenvollen Begräbnisses gewürdigt wurden, auf einem Kahn von einem Fährmann nach den Inseln der Seligen, d.h. nach den allgemeinen Begräbnisstätten, bringen zu lassen. Nach der griechischen Sage hält Charon, ein alter Diener des Pluto, am Höllenfluss Wache, nimmt die Seelen, welche Merkur ihm zuführt, in seinen Kahn auf und setzt sie über den Styx oder Acheron, wofür man ihm einen Obolus zahlen musste, der dem Verstorbenen unter die Zunge gelegt wurde; diejenigen, welche kein Begräbnis empfangen hatten, mussten ein Jahrhundert lang um die Ufer des Styx schweben.“
(Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. Stuttgart, Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung 1874. Fotomechanischer Neudruck der Originalausgabe, Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1978)
Der Schock
Matthäus 5,48: | „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ |
Keine Frage, die Auferstehung Jesu von den Toten ist an Brisanz kaum zu überbieten. Mein Herz glühte für das Geheimnis dieses Wunders und ich rang um Erkenntnisse, die mich dem Verstehen näher bringen könnten.
Ich kam nicht umhin, das Versagen der Menschheit einzugestehen. Wo sind diejenigen, die heilen, Tote ins Leben zurückholen, die „vollkommen sind, gleichwie unser Vater im Himmel“? Um es genau zu sagen: Die Menschheit schien mir konsequent auf der Stelle zu treten. Warum ...?
Nun sollte man ja zumindest in der Kirche etwas spüren von dem Wissen um die Herrlichkeit „hinter dem Schleier“, um das Licht jenseits der sichtbaren Welt – und was gibt es Schöneres, als in diese Welt wieder zurückzukehren?
Der Schock war gründlich, als ich meine ersten Beerdigungen spielte: Eine muffige, spärlich beleuchtete Kapelle und das zwanghafte Schwarz, das wie eine Schicht aus Pech und Teer nicht nur an Menschen und Dingen klebte, sondern auch die ganze Atmosphäre belastete, verwandelte den Ort in einen Vorraum der Schattenwelt. Hier hatte offensichtlich ein Mensch sein Leben verpfuscht und wurde mit Extra-Geleit in die Hölle befördert. Ein paar salbungsvoll gesprochene Bibelworte konnten darüber auch nicht hinwegtäuschen. Grund genug zum Heulen.
Auch ich heulte beinahe, aber aus Wut. Es war natürlich unschwer zu erkennen, dass das Versagen nicht auf Seiten des Verstorbenen lag, sondern bei denen, die die Feier gestalteten. Dummerweise gehörte auch ich zu den Letzteren.
Die Einflussnahme des Organisten auf die Gestaltung der Feier hat allerdings natürliche Grenzen: Sein Wirkungsfeld ist die Musik. Er zeichnet sich zudem in erster Linie dadurch aus, dass er nicht unangenehm auffällt: Er sollte spielen, aber eben das, was er soll, d.h. was den Wünschen der Angehörigen, des Pfarrers und des Bestattungsinstitutes entspricht. Ein gern gesehener Organist macht das. Organisten mit eigener Meinung sind eher anstrengend und deshalb in der Regel weniger gern gesehen.
Die Gefahr einer geistigen Lähmung muss an dieser Stelle angesprochen werden. Wenn man Dinge so macht, weil man sie so macht, ist die Katze schon tot. Besser, sie ist nur im Sack, dann kann man sie wenigstens wieder herauslassen ...
Um der Lähmung zu entgehen, entwarf ich immer kühnere Visionen für meine eigene Beerdigung. Während man neben oder unter mir (Organisten spielen meistens auf Emporen) in schwarzer Trauerzeremonie Sarg um Sarg und Urne um Urne zu ihrer „letzten irdischen Ruhestätte“ aussegnete, feierte ich im Geiste von oben meine eigene Zeremonie: In weißen Kleidern, tanzend um den auf einem hellen Tuch stehenden schlichten Sarg, würden alle an meiner Freude teilhaben. Der Pfarrer würde eine meiner zahlreichen, während vieler Trauerfeiern verfassten Predigten halten, die von der Freude und der Realität der Auferstehung, der ewigen Verbundenheit allen Lebens, der Möglichkeit des inneren Gespräches mit dem „Verstorbenen“ und der Notwendigkeit, an sich selber zu arbeiten, handeln würde. Die letzte Träne würde versiegen und ...
Meine Visionen waren lebhaft, ich wurde innerlich zum Apostel. Trotzdem änderten sie nichts an der traurigen Tatsache, dass etwa 80% aller Feiern eher trostlos als freudig verliefen. Ich musste meine Meinung revidieren, dass dies nur an den Institutionen lag. Offensichtlich gibt es wenige Menschen, die klare Vorstellungen darüber entwickeln, wie sie von dieser Erde verabschiedet werden wollen. In Konsequenz dieser nicht wahrgenommenen Verantwortung treten – meistens verkümmerte – Formen in Kraft, die Andere geschaffen haben.