Der ganzheitliche Ansatz in der Stimmbildung. Sassy Bernert

Der ganzheitliche Ansatz in der Stimmbildung - Sassy Bernert


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machen.

      Auch das Bedürfnis perfekt zu sein, etwas perfekt machen zu wollen begegnet mir in der Praxis sehr häufig. Doch der übertriebene, oft unmenschlich hohe Anspruch an sich selbst, keine Fehler machen zu wollen, behindert die Entwicklung und hinterlässt die Betroffenen teilweise blockiert und unproduktiv.

      Perfektion, was immer das für den Einzelnen bedeutet, kann durchaus auch ein Vorwand sein, um gar nicht erst ins Handeln kommen zu müssen. Ein übermenschlich hoher Anspruch, der niemals erfüllt werden kann, wird dann als Ausrede benutzt, einfach untätig zu verharren. Perfektionismus hat viele Gesichter. Damit aus der Singlust kein Frust wird, sind die Maßstäbe anders zu setzen.

      Können darf nicht erwartet werden, man muss es sich erarbeiten.

      Als sehr hilfreich hat sich beispielsweise das Erfinden eines neuen, stimmigen Selbstbildes erwiesen.

      Auch viele der ganz großen Sänger und Sängerinnen arbeiten ihr Leben lang an und mit sich und ihrer Stimme. Selbstbewusstsein kann man immer vertiefen und Entwicklung endet nie …

      Ganz gleich, auf welcher Stufe Sie Gesang betreiben oder betreiben möchten: Wichtig ist die Intention, die Sie als Sänger bzw. Sängerin bewegt.

      ● Warum möchte ich singen?

      ● Was möchte ich singen?

      ● Wie möchte ich singen?

      ● In welcher Qualität möchte ich singen?

      ● Was möchte ich leisten?

      ● Was ist mein stimmliches Ziel?

      ● Was ist mein gesangliches Ziel?

      ● Was ist mein musikalisches Ziel?

      ● Welche Voraussetzungen bringe ich mit?

      ● Welche Voraussetzungen benötige ich, um mein Ziel zu erreichen?

      ● Welchen Einsatz bin ich bereit einzubringen, um mein Ziel zu erreichen?

      ● Wer kann mir bei meinem Weiterkommen weiterhelfen?

      Als ich meinen Weg antrat, wusste ich von all dem nichts. Ich dachte, durch den Gesangsunterricht und das Erlernen einer Gesangstechnik würde ich schon lernen, was ich brauche, um eine wohlklingende Gesangsstimme zu bekommen. Hochmusikalisch war ich und fleißig wollte ich sein.

      Und so war es: Ich übte in jeder freien Minute und insbesondere das Auto wurde zu meiner persönlichen Übungskabine. Ich übte weit über die Maßen hinaus – doch funktioniert hat es nicht. Ich konnte nicht einmal summen und spürte: Bei mir funktioniert etwas Grundsätzliches nicht. Die Antwort meines Umfeldes lautete immer nur: Gesang zu erlernen dauert nun mal seine Zeit.

      Doch es war nicht die Ungeduld, die mich oft verzweifeln ließ, es war die Tatsache, dass grundlegende Dinge im Vergleich zu anderen Sängern nicht funktionierten. Ich hätte alles getan, um herauszufinden, was das war – und das tat ich auch.

      Des Rätsels Lösung ist rückblickend so klar wie Anna Netrebkos hohes C: Mein Klang war ein Abbild meiner damaligen Lage und ich erfüllte nicht einmal im Ansatz alle notwendigen Voraussetzungen, um meine Stimme zum Klingen zu bringen. Durch eine langjährige Krankheit und die vielen Ereignisse, die diese mit sich brachte, war ich aus der Balance, wie man es nur sein kann, und zwar auf allen Ebenen, die uns Menschen ausmachen: der körperlichen, der geistigen und der emotionalen Ebene. Auch unsere Haltung zu uns selbst, zum Leben und zu unseren Mitmenschen spielt eine wichtige Rolle. Wo würden Sie selbst sich hier sehen? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken.

      Im späteren Verlauf habe ich mich unter anderem an Größen wie Joyce DiDonato, Sarah Brightman, Cecilia Bartoli oder Luciano Pavarotti orientiert, welche den klassischen Kunstgesang, der wohl höchsten und anspruchsvollsten Disziplin, betreiben. Wunderbare Beispiele gibt es in allen Musikgenres, im Bereich Pop/Rock, Musical- und Heavy Metal sind es für mich beispielsweise Sängerinnen wie Celine Dion, Helene Fischer, Sierra Bogges, und Floor Jansen, die allesamt trotz, oder gerade wegen ihres großen Talents nicht nur eine Gesangsausbildung genossen haben, sondern sich intensiv mit sich und ihren Stimmen auseinandersetzen. Sie sind in meinen Augen Paradebeispiele, was ein Mensch mit enormem Talent durch Fleiß, Ausdauer, Willen, Passion, Leidenschaft, Liebe, Disziplin und vor allem ganz viel Gefühl aus sich machen kann.

      Außergewöhnliche Natursänger bringen mehr mit, als nur ihre Stimme: Sie erfüllen viele Voraussetzungen, um so zu klingen und zu singen, wie sie es tun. Und: Sie haben etwas zu sagen. Auf diesen wichtigen Punkt gehen wir später noch genauer ein. Als Beispiel aus dem Bereich Heavy Metal möchte ich den unvergessenen Ronnie James Dio aufführen. Er hatte nie Gesangsunterricht, konnte seine fantastische Naturstimme einfach so einsetzen. Seine unverwechselbare Stimme gehörte zu den größten der Heavy-Metal-Szene. Er nannte den amerikanischen Tenor Mario Lanza als einen seiner ersten Einflüsse, sein erstes Instrument war spannenderweise (aufgrund der Atemtechnik) die Trompete.

      Ich bin mit einer unsingbaren Stimme gestartet und habe mich durch viel Fleiß, Liebe, Leidenschaft und einer Mischung aus Ausdauer, Disziplin, Wahnsinn und vor allem einem unerschütterlichen Willen zu einem singbaren Instrument aufgebaut und poliere es kontinuierlich.

      Sassy Bernert

      Wenn es funktioniert, kann es auch ganz ohne Gesangsunterricht funktionieren. Funktioniert alles in gesundem Maße, kann Gesang von vielen Menschen als kinderleicht und das Natürlichste auf der ganzen Welt empfunden werden.

      Eine ungeschulte Stimme ist ein anderes Instrument, als eine geschulte. Man könnte sagen, es ist die Luxusvariante oder einfach die geschliffene und polierte Variante eines rohen Edelsteins. Eine Naturstimme ist weder besser noch schlechter. Die Kunst des Könnens, das Bewusstsein und die Anwendung machen den Unterschied. Bewusstes Können zu erlangen ist für alle, unabhängig ob mit Talent gesegnet oder nicht, mit viel Arbeit verbunden – einer wunderbaren Arbeit mit und an sich, die höchste Freude und Spaß bereiten kann.

      Manchmal berührt eine Stimme auch gerade deshalb, weil sie roh und ungeschliffen ist.

      Freude und Spaß bedeutet für jeden etwas anderes. Was für den einen Freude, Spaß und höchste Spannung bedeutet, kann einen anderen Menschen frustrieren, sogar langweilen. Genau deshalb ist es wichtig, die eigene Intention herauszufinden, warum man mit dem Gesangsunterricht beginnen und was man erreichen will. Anhand dessen sucht man sich den für einen passenden Gesangsunterricht aus. Wer ausschließlich Spaß im Sinne von Entertainment sucht, bleibt in diesem Zuge meist näher an der Oberfläche und sollte sich infolgedessen auch mit dem entsprechenden Resultat zufriedenzugeben.

      Qualitativ hochwertiger Gesangsunterricht bedeutet immer intensive Arbeit. Der ganzheitliche Ansatz bietet hier ein noch mal umfangreicheres Spektrum.

      Wenn es stimmt, läuft´s und wenn es läuft, dann stimmt´s.

      Der Weg sollte mindestens genauso viel Freude und Spaß bereiten, wie das Endresultat, wenn alles läuft und die Stimme das macht, was man fühlt. Was dieser Prozess für uns tun kann, ist unbezahlbar.

      Sassy Bernert

      Je ungünstiger die Voraussetzungen, desto höher muss der Einsatz sein. Je besser die Voraussetzungen, desto mehr Fleiß sollte eingesetzt werden. Vieles ist möglich mit der eigenen Stimme.

      Im besten Fall wird durch den Gesangsunterricht ein bewusstseinserweiternder Prozess mit dem Blick auf sich selbst begonnen. Gesangsschüler werden zu selbstbewussten Persönlichkeiten. Ein selbstbewusster Mensch kann durch erlangte Selbstwahrnehmung sein Instrument entsprechend steuern. Dass die Stimme durch den Einsatz von Stimmtechnik zum Klingen kommt und durch sie poliert wird, ist eine logische Konsequenz und eine Sache von Ausdauer, Geduld und Fleiß.

      Jeder Mensch ist eine eigene Welt.

      Jeder Mensch hat eine eigene Wahrheit.

      Jeder Mensch hat ein eigenes Herz.

      Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte.

      Und jeder Mensch hat seinen eigenen Klang.

      Für dessen Stimmung ist jeder selbst


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