Sorgenkind Kita. Petra Görgen

Sorgenkind Kita - Petra Görgen


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Schmerz.“… „Andauernde Bindungsdefizite stellen die Basis für Psychopathologie beim Erwachsenen dar.“…

      (Jürgen Wettig, Deutsches Ärzteblatt)

      Bei Kindern, die wiederum gar kein Problem damit haben, in so jungen Jahren an fremde Personen abgegeben zu werden, sollte man deren Bindungsverhalten hinterfragen. Es ist nämlich weder normal noch wünschenswert, dass Kleinstkinder sich ohne Protest den Eltern „abnehmen“ lassen.

      Nun könnte man meinen, dass es U3-Kindern, die eine feste Bezugsperson in der Kita haben, doch eigentlich gut gehen müsste. Leider ist das ein Irrtum, denn nicht nur das Fehlen einer festen Bezugsperson löst bei Kindern Stress aus, sondern vor allem die allgemeine Situation im Kindergarten. Außerdem möchte ich betonen, dass es der übliche Personalschlüssel in einer Kita gar nicht zulässt, dass ein U3-Kind dauerhaft eine feste Bezugsperson hat. Höchstens während der viel zu kurzen Eingewöhnungsphase, deren Dauer übrigens von der Einrichtung, aber nicht vom Bedürfnis des Kindes bestimmt wird.

      So läuft es wirklich!

      Ist es möglich, dass man U3-Kinder so wie zu Hause betreuen kann? Natürlich nicht. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase mit der Bezugsperson, muss sich diese nämlich direkt um die Eingewöhnung des nächsten Kindes kümmern. Und danach um die des dritten Kindes, während die ersten beiden schon mehr oder weniger zur Nebensache geworden sind und möglichst „mitlaufen“ sollen. Ich habe selber erlebt, wie eine an sich sehr ausgeglichene und warmherzige Kollegin den ganzen Tag hin und hergerissen war zwischen drei schreienden Babys, die getragen und getröstet werden wollten, nachdem die Trennung vom jeweiligen Elternteil schon ein Kraftakt war. Durch das ständige Heben und Tragen der Kleinen hatte sie in Kürze starke Rückenschmerzen und diese förderten nicht gerade ihre gute Laune. Wickeln, Füttern und in einem fremden Bettchen einschlafen waren weitere echte Herausforderungen. Denn der Alltag in einer Kita ist laut, hektisch und für Kinder dieses Alters - wie wir ja nun wissen - echter Stress. Die betreuende Erzieherin ging nach kurzer Zeit auf dem Zahnfleisch, war gereizt und erhob sehr häufig die Stimme gegen die Kleinen. Im schlimmsten Fall führt diese tägliche körperliche und psychische Anspannung zu krankheitsbedingten Ausfällen (Burnout). Dann kümmern sich die anderen Kolleginnen zusätzlich um diese Kinder und haben noch mehr Stress. Mal ganz abgesehen von den regulären Urlaubstagen des Personals. Und noch eine kurze Anmerkung: Es stellt in Deutschland eher eine Ausnahme dar, dass auf eine U3-Fachkraft drei Kleinstkinder kommen. Es sind im Normalfall vier bis fünf!

      Aber in Schweden klappt das doch auch - oder?

      Es gibt einen gravierenden Unterschied im Vergleich zur U-3-Betreuung in Deutschland zu der in Schweden, dessen vorbildliche Familien- und Bildungspolitik ja so gerne in Deutschland als Argument herangezogen wird, um eine frühe Abgabe des Kindes zu rechtfertigen. Ich möchte versuchen, diesen Unterschied einmal näher zu erläutern. An erster Stelle stehen der Betreuungsschlüssel und die Qualifikation der U3-Fachkräfte. Sowohl eine stetige Bezugsperson als auch der adäquate Umgang mit Kleinstkindern müssen garantiert sein, damit ein derart junges Kind sich im Alltag einer Kita zurechtfinden kann. Eine sehr kleine Gruppenstärke, das individuelle Eingehen auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder und ein hoher Grad an Flexibilität sind Grundvoraussetzungen, damit man einigermaßen sicher sein kann, dass es dem Nachwuchs dort gut geht. Dafür braucht man in erster Linie speziell ausgebildete U3-Fachkräfte und Geld. Viel Geld.

      Woher kommt das Geld für die hochwertige Betreuung in Schweden?

      Ganz einfach. Die Bewohner Schwedens zahlen deutlich höhere Steuern als wir in Deutschland. So sind beide Elternteile dort noch viel eher gezwungen, arbeiten gehen zu müssen und haben bei weitem nicht die Wahlfreiheit, die so manche deutschen Eltern vielleicht hätten. Auch der gesellschaftliche Druck, der dort auf den Müttern lastet, ist enorm hoch. Ähnlich wie in Deutschland, erwartet man von einer jungen, modernen Frau, dass sie so schnell wie möglich wieder ins Berufsleben einzusteigen hat. Schweden begegnet den Familien mit vielen Freiheiten und 60 Tagen Lohnfortzahlung (80% des Gehalts) im Jahr für Ausfälle, die durch kranke Kinder bedingt sind. In meinen Kapiteln „Mein Kind ist krank - was nun?“ und „Was der Staat tun muss“ gehe ich näher darauf ein, warum genau das so wichtig ist. Man gewinnt trotzdem den Eindruck, dass diese vorbildliche Familienpolitik und die hochgradige Qualität der Betreuung eher dem Staat dienlich ist als den Kindern! Schweden und auch andere Länder zwingen mit dem Argument der perfekten Familienpolitik Mann und Frau gleichermaßen zur Berufstätigkeit und damit zur ganztägigen Abgabe des Kindes. Mit Freiheit hat das in meinen Augen nichts zu tun - und erst recht nicht mit Emanzipation!

      Qualität der anderen europäischen Kitas im U3-Bereich

      Erziehung und Förderung beginnt nicht erst ab dem Vorschulalter, sondern von Geburt an. Die ersten drei Lebensjahre sind, entgegen manch landläufiger Meinung, besonders wichtig für die spätere Entwicklung des Kindes. Deshalb werden z.B. in Skandinavien oder Frankreich, prozentual gesehen, viel mehr akademisch ausgebildete Pädagogen speziell für die Kinder unter drei Jahren in die Kitas geholt. Das heißt, die Qualität der Betreuung und Förderung ist dort viel hochwertiger als in Deutschland. Außerdem unterscheidet sich der Personalschlüssel deutlich. Auf vier Kinder kommt in Skandinavien und Frankreich im Schnitt eine Betreuungskraft, d.h. im U-3-Bereich kommen deutlich weniger Kinder auf eine betreuende Person, im Ü-3-Breich etwas mehr. In den deutschen Bundesländern variiert der Personalschlüssel gewaltig. Ohne Zweifel sind dieser Personalschlüssel und auch die fachliche Kompetenz hier bedeutend schlechter als in manch anderen europäischen Ländern. Neben Mama und Papa sollten kleine Kinder möglichst wenige und konstante Bezugspersonen haben. Dies hat, wie Sie sich schon denken können, etwas mit Urvertrauen und Bindung zu tun, die enorm wichtig für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes sind. Ich war und bin nach wie vor ein großer Verfechter des Kindergartenalters ab dem dritten Lebensjahr. Da es aber in vielen Familien aus diversen Gründen nicht anders geht, als das Kind schon sehr früh abgeben zu müssen oder weil es schlicht und ergreifend eine Menge Elternteile gibt, die auf ihre Karriere und einen gewissen Lebensstandard nicht verzichten wollen, möchte ich auf etwas Wichtiges hinweisen.

      Man bekommt als Eltern, die sich gegen die U3-Betreuung entscheiden, immer wieder das Gefühl vermittelt, man sei unmodern und viel zu sehr in Sorge um das Wohl des Kindes, das doch lernen müsse, sich anzupassen. Damit könne man ja nicht früh genug anfangen. Man sähe doch an den vielen älteren Kindern, dass ihnen das nicht geschadet habe. Doch die langfristigen Auswirkungen dieser viel zu frühen Fremdbetreuung zeigen sich erst später.

      Quantität statt Qualität in Deutschland

      Bedenken, dass Kinder unter drei Jahren in Deutschland im Kindergarten gut aufgehoben sind, sind berechtigt. Es stimmt. Je mehr U-3-Kinder in einer Kita aufgenommen werden, desto höher ist der Personalschlüssel. Dieser Personalschlüssel wird aber oft für alles andere genutzt, als für eine höherwertige Betreuung der Kleinsten. Ab und an gibt es besondere Angebote für die „Minis“. Man möchte ja den Eltern auch etwas vorweisen. Entspannungsmusik, Fingerspiele etc. All das steht brav auf dem Wochenplan der Einrichtung. Aber meistens geht es nur um eine reine Beaufsichtigung. Dem Kind darf nichts in erster Linie nichts passieren und es muss mit Windeln, Essen und Trinken versorgt sein. So ganz nebenbei müssen die Kinder dazu genötigt werden, irgendwie gleichzeitig in den Mittagsschlaf hineinzufinden (denn auf persönliche Schlafens- und Esszeiten kann man in einem Kindergarten meist keine Rücksicht nehmen). Das alles ist schon kraftraubend genug! Denken Sie einmal darüber nach, was es bedeutet, nur ein einziges Kleinkind zu betreuen. Und dann malen Sie sich bitte aus, wie das mit mehreren Kindern in diesem Alter und erst recht, wie es mit mehreren Säuglingen läuft! Und dann sollen die Kleinen auch noch stets die Möglichkeit haben, sowohl ihre motorischen als auch kognitiven Fähigkeiten auszubauen? Zusätzlich wird dies alles protokolliert und ein persönliches Portfolio angelegt. Bei all dem hat sich die Bezugsperson, die aus vielen Gründen auch mal fehlen könnte, genauso ausgeglichen und liebevoll um Ihr Kind kümmern, wie gute Eltern zu Hause?

      Echte Bedürfnisse von unter Dreijährigen

      Wenn eine Fachkraft die Signale des Kindes versteht, wenn sie empfindet, was das Kind auszudrücken versucht, wenn sie sich der aktuellen Welt des Kindes anpassen und auf das Kind empathisch reagieren kann, dann ist es eine gute Betreuerin.


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