100 Prozent Anders. Tanja Mai
nach der Schule fuhr ich von Koblenz mit dem Zug nach Frankfurt, wo mich Peter Krebs ins Auto setzte und mit mir quer durch Deutschland zu den Auftritten mit Tommi Ohrner und Co. fuhr. Am Sonntagabend war ich wieder zuhause, so dass ich noch genügend Zeit hatte, um meine Hausaufgaben zu machen und für die Schule zu lernen. Beim großen Eröffnungskonzert in Frankfurt waren natürlich Journalisten von allen Jugendmagazinen vor Ort: Bravo, Popcorn usw. In der Bravo gab es eine Rubrik, die sich „Junge Talente“ nannte und immer auf Seite drei erschien. Wie sollte es auch anders kommen – plötzlich war ich der Junge von Seite drei. Ich wurde fotografiert und im Interview unter anderem auch gefragt, ob ich eine Freundin habe. Meine Antwort damals: „Nein. Ich habe noch keine Freundin. Das kommt noch.“
Als die Bravo im Handel war, habe ich sofort überschlagen, wie viel Geld ich auf meinem Konto hatte. Ich wollte die gesamte Bravo-Auflage aufkaufen, so sehr habe ich mich für den Artikel geschämt. Die Überschrift lautete: „Ich habe noch nie ein Girl geküsst!“ – Hat jemand eine Ahnung, wie demütigend das mit 16 ist? Die wahre Hölle kam aber erst noch. Der Hausmeister des Eichendorff-Gymnasiums, Goofy genannt, hatte sich nichts dabei gedacht und den Bericht inklusive Fotos ausgeschnitten und riesengroß ans Schwarze Brett gepinnt. Ich hätte nie geahnt, was für ein niederschmetterndes Gefühl das ist, wenn selbst ein Sechstklässler nur verächtlich an einem vorbeiblickt. Nach dem Motto, schlimm genug, dass der Anders vom Land kommt, jetzt ist er auch noch völlig zurückgeblieben und hat noch nie ein Mädel geküsst. Wie peinlich!
Ich sah den Artikel an der Pinnwand schon von weitem. Mein Kumpel Andreas, der neben mir lief, meinte nur: „Oh, was ist das denn?“ Worauf ich rief: „Halt die Schnauze.“ Dann schrie ich nach Goofy und befahl ihm, den Artikel sofort wieder abzuhängen. Aber natürlich hatten ihn längst alle 900 Schüler gelesen. Was für eine Schmach!
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Etwas später war das erste Halbjahr an meiner neuen Schule geschafft, und es ging auf die Halbjahreszeugnisse zu. Ich machte mir nicht allzu viele Gedanken. Zum einen waren meine Noten gut, zum anderen zählte in unserem Schulsystem das erste Halbjahr der Oberstufe sowieso nicht fürs Abitur. Also alles ganz entspannt? Nicht ganz! Ich hatte in den vergangenen Monaten eine aufregende Zeit. Neue Schule, neue Schulkameraden, meine erste Single, eine kleine Tournee, die ersten überregionalen Presseberichte.
Am Tag nach der Zeugniskonferenz wurde ich mit zwei weiteren Schülern zu unserem Direktor zitiert. Während der Notenkonferenz war meinem Sportlehrer aufgefallen, dass ich nur ein einziges Mal zum Sportunterricht – Sie erinnern sich, der verhasste Fußballkurs? – erschienen war. Es stellte sich heraus, dass es insgesamt drei Schüler gab, die es so wie ich gemacht hatten. Unser Klassenlehrer informierte uns darüber, dass wir auf der Stelle beim Direktor anzutanzen hätten. Der liebe Herr Direktor Rahmann! Wir drei marschierten also in sein Sekretariat und warteten. Er rief uns einzeln zu sich. Ich kam als letzter dran. Ich hörte draußen die Maßregelungen von Direktor Rahmann und sein Geschrei. Beide Jungs kamen jeweils wie ein Häufchen Elend aus dem Büro des Direktors. Und dann war ich an der Reihe. Ich hatte in den zehn Minuten vorher Zeit gehabt, mir eine Strategie auszudenken: Ich fühlte mich immer noch irgendwie durch meinen Lehrer, Herrn Harder, unfair behandelt. Mir einfach den Fußballkurs aufzubrummen, ohne mir auch nur den Hauch einer Chance auf eine Alternative zu lassen, empfand ich als total diktatorisch.
Ich hatte kaum Rahmanns Büro betreten, da wollte der Direktor erneut losschreien. Doch bevor er dazu kam, stoppte ich ihn: „Moment, Herr Direktor. Bitte geben Sie mir eine Sekunde, damit ich Ihnen erklären kann, wie es überhaupt so weit kommen konnte.“ Rahmann riss die Augen auf angesichts von so viel Dreistigkeit, aber er ließ mich erzählen.
Also erklärte ich ihm die verfahrene Situation und sagte: „Wissen Sie, Herr Rahmann, es gibt Menschen, die haben zwei linke Hände. Und genauso habe ich zwei linke Füße. Fußball und ich, das geht gar nicht.“ Ich war so im Redefluss, dass ich gar nicht bemerkte, dass die linke Hand von Rahmann eine Prothese war. Oh, Mann! Bis er plötzlich losschrie: „Wie meinen Sie das mit den zwei linken Händen? Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Darauf ich: „Ähhhhh, ich meine, ich kann nicht Fußball spielen. Ich finde Fußball ätzend. Mich hat auch niemand gefragt, ob ich überhaupt Fußball spielen möchte. Ich wurde einfach dafür eingeteilt.“ Bevor er wieder laut wurde, unterbreitete ich ihm einen Vorschlag: „Ich habe mir etwas überlegt, wie ich mein Fehlverhalten wiedergutmachen kann.“ Bis dato hatte wohl noch kein Schüler die Chuzpe gehabt, dem Direktor einen Deal anzubieten. Doch Rahmann zeigte sich interessiert. „Was haben Sie vor?“ – „Ich singe. Ich kann gut singen. Ich habe sogar schon Schallplatten aufgenommen, die auch veröffentlicht wurden. Beim nächsten Schulfest gebe ich mit der Schulband ein Konzert.“ Er sah mich an: „Wie, Sie haben schon Schallplatten aufgenommen? Das ist ja interessant. Da haben wir also einen richtigen Künstler an unserer Schule?“ Ich nickte: „Verstehen Sie jetzt, warum ich nicht Fußball spielen kann? Wahre Künstler spielen nicht Fußball.“ Rahmann war kaum noch zu bremsen. Er wollte alles über meine Musik wissen. Nach einer dreiviertel Stunde waren wir uns einig. Er willigte in meinen Vorschlag ein und verabschiedete mich mit Handschlag.
Als ich aus der Tür trat, standen meine beiden immer noch zusammengebügelten Mitschüler da. Sie hatten auf mich gewartet und platzten fast vor Neugierde, weswegen es bei mir so lange gedauert und der Alte nicht lauthals losgeschrieen habe. Sie verstanden die Welt nicht mehr, als ich ihnen die Geschichte erzählte. „Du bist eine alte Laberbacke“, war ihre Antwort.
Beim Schulfest im folgenden Frühjahr löste ich mein Versprechen ein. Ich hatte mir eine richtig professionelle Inszenierung ausgedacht und eigens den Spider-Murphy-Gang-Song „Skandal im Sperrbezirk“ umgetextet in „Skandal am Eichendorff“. Meine Show führte um Haaresbreite dazu, dass Feueralarm ausgelöst wurde. Ich rannte quer durch die Aula hoch zur Bühne. Deshalb sollten meine Klassenkameraden dafür sorgen, dass der Mittelgang freiblieb. Bei den ersten Takten der Musik flitzte ich los, sprintete die 30 Meter durch die Aula, sprang auf die Bühne, schnappte mir das Mikrofon und fing an zu rocken. Goofy, unser diensteifriger Hausmeister, dachte wohl, es sei etwas passiert und ich würde aus einer Panik heraus durch die Halle rennen. Er wollte gerade den Feueralarmknopf drücken, als ihn ein Mitschüler am Arm packte und ihn darüber aufklärte, mein Spurt sei bloß Teil der Show. Das Konzert wurde ein Riesenerfolg!
Zeitgleich zu meinem Eintritt ins Eichendorff-Gymnasium und zu den turbulenten Erlebnissen des ersten Schulhalbjahres bewarb ich mich für eine Talentshow im Fernsehen.
Die ZDF-Show hieß „Hätten Sie heut’ Zeit für uns?“, und durchs Programm führte der beliebte Moderator Michael Schanze.
Michael Schanze wurde in den Siebzigerjahren als Sänger und Showmaster bekannt und entsprach dem klassischen Bild des idealen Schwiegersohns, wie ihn sich jede Fernsehzuschauerin heimlich wünschte. Er war der perfekte Mann für die TV-Unterhaltungsbranche. In seiner Talent-Show mussten alle Künstler live singen und wurden live von einer Bigband begleitet. Im Unterschied zu vielen heutigen Casting-Shows wurde damals kein Sieger ermittelt. Es war Auszeichnung genug, dass man an der Sendung teilnehmen durfte. Von über 700 Bewerbungen wurde ich neben 12 weiteren Newcomern eingeladen. Was für ein Schritt, was für ein Karrieresprung. Ich war stolz wie sonst was!
Bis zu meinem großen Erfolg mit Modern Talking dauerte es rückblickend viele Jahre. Auf dem Weg dorthin gab es aber immer wieder Karrieresprünge, die mich meinem Traum, ein erfolgreicher Sänger zu werden, ein großes Stück näher brachten. Der Auftritt bei Michael Schanze zählt eindeutig zu meinen Highlights als aufstrebender Jungkünstler. Ich hatte zuvor noch nie an einer Fernsehshow teilgenommen, nicht mal bei einem kleinen Lokalsender. Und jetzt gleich das ZDF, Hauptabendprogramm. Live singen und live Klavier spielen. Live im Programm. Ohne Netz und doppelten Boden. Über zehn Millionen Fernsehzuschauer. Konzentrieren, Haltung und … RAUS auf die Bühne!
Ich sang meine zweite Single „Du weinst um ihn“ und war erleichtert, als es vorbei war. Die Single wurde ein Achtungserfolg, schaffte es aber wieder nicht in die Verkaufscharts.
Jeder kennt die Lebensweisheit: „Vor den Erfolg hat