Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens
verdient hat, hier einzusitzen.“
End schwieg.
„Sag mal, kann es sein, dass …“
„Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen?“, kam es rau aus einer anderen Zellen.
„Schon gut, schon gut“, meinte der Sänger. „Ich dachte nur, er ist vielleicht … aber nein, das ist unmöglich.“ Der Sänger kniff die Augen noch enger zusammen, als könne er so die Dunkelheit mit seinen Blicken durchbohren. „Du bist nicht etwa Godric End?“
Aus einer der anderen Zellen drang ein Schnauben. „Hör auf zu schwatzen. End? Es heißt, er sei in Rust und führe das Volk gegen den Schwarzen Baron.“
„Nein“, widersprach der Sänger kopfschüttelnd. „Es heißt, er sei auf dem Weg nach Rust, um unsereins anzuführen.“
„Wer weiß schon, wo End ist“, sagte jemand anders. „Ich habe gehört, er sitzt in dieser Nervenheilanstalt in Treedsgow.“
„Nein, er ist vor langer Zeit gestorben, als die Swimming Island Black Ravens versenkt wurde.“
„Unmöglich! Kennt ihr nicht die Geschichten? Sein Wille ist stärker als der Tod.“
„Geschichten, Junge …“
„Es stimmt! Er hat einen Schuss ins Herz überlebt. Eine Maschine in seiner Brust fördert nun das Blut durch seine Adern. Sein Herz ist so kalt wie das Eisen, aus dem es gemacht ist, sagt man.“
Spöttisches Gelächter hallte durch den Zellenblock.
„Sei nicht albern, Junge. Glaubst du etwa auch die Geschichten über die Flying Island?“
„Flying Island?“, mischte sich jemand weiteres ins Gespräch.
„Angeblich hat End das Schiff Ravens rekonstruiert. Als Luftschiff.“
„Er wird uns alle hier rausholen“, sagte der Junge mit hoffnungsschwangerer Stimme.
„Ist er wirklich der edle Held, für den du ihn hältst? Er hat einst an der Seite Black Ravens gekämpft. Es heißt, er habe seine eigene Schwester ermordet …“
„Nicht seine Schwester. Die Tochter des Schwarzen Barons.“
„Er ist nicht edel“, sagte der Junge. „Ich sagte doch, sein Herz ist kalt wie Eisen. Sein Wille ist stärker als der Tod. Er zögert nie. Er gibt nie auf. Er hat einen Bären mit bloßen Händen getötet. Er wird der Perlkönig genannt. Er kämpft erbarmungslos. Aber er kämpft auf unserer Seite.“
„Hör auf, Reden zu schwingen, Junge. Wir alle wünschten, es wäre so, aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Der Schwarze Baron hat gewonnen. Die Königin wird sich niemals gegen den Bergmannsadel durchsetzen können. Dazu fehlen ihr die Eier.“ Der Insasse lachte freudlos.
„Warum fragen wir End nicht einfach selbst?“, mischte sich der Sänger ein in einem letzten Versuch, den Neuankömmling zum Reden zu bringen. Die Diskussion verebbte. Die jäh eingekehrte Stille richtete ihren fragenden Blick auf End.
Aber End schwieg.
Der Sänger seufzte. „Dann eben nicht“, knurrte er und zog sich in den hinteren Bereich seiner Zelle zurück. Er zog einen Schuh aus, holte eine plattgedrückte Tüte Tabak und eine Schachtel mit Zündhölzern daraus hervor und drehte sich eine Zigarette. Als er ein Zündholz über die Sohle seines Schuhs zog, und die Flamme erwachte, hob End den Kopf.
Ein interessierter Ausdruck trat in seine bislang leeren Augen.
„Kann ich eine haben?“, fragte er mit rostiger Stimme.
Der Sänger hob die Brauen. „Aber klar. Wenn du mir deinen Namen verrätst.“
End erhob sich. Die schweren Ketten seiner Hand- und Fußfesseln klirrten, als er sich auf die Zellentür zubewegte. Der Sänger drehte eine zweite Zigarette, trat vor die eigene Zellentür und hielt sie hoch. Das Papier, in die sie eingewickelt war, war so schmutzig, dass es fast schwarz war.
„Und?“
End schwieg.
„Schade.“ Der Sänger führte seine eigene Zigarette zum Mund, zog daran und blies den Rauch auf den Gang des Zellenblocks. End schloss die Augen und sog den Geruch ein. Die Muskeln unter seiner straffen Haut spannten sich. Kurz schien es, als würde er die Ketten mit der bloßen Kraft seiner Arme auseinandersprengen.
Er öffnete die Augen.
Ein Funkeln lag in seinem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass ihm das Leben des Sängers in diesem Augenblick weniger wert war als die Zigarette. Obwohl zwei Zellentüren die beiden Männer voneinander trennten, machte der selbstgefällige Ausdruck im Gesicht des Sängers Beunruhigung Platz. Er wich zurück.
„Ich meine ja nur“, sagte er schnell. „Dieser Aufstand ist so gut wie verloren. Unser aller Hoffnung ruht auf End. Mag sein, dass du nicht er bist. Aber es ist nicht zu viel verlangt, mir deinen Namen zu verraten, oder? Schließlich verlangst du eine meiner letzten Zigaretten.“
End musterte den Sänger einige Sekunden lang kühl, und der Mann wand sich sichtlich unter seinem Blick.
„Gib mir die Zigarette“, sagte er schließlich. „Dann geb ich dir meinen Namen.“
Der Sänger zögerte.
„Erst den Namen“, sagte er kleinlaut.
End schwieg und umfasste die rostigen Gitterstäbe seiner Zellentür mit beiden Händen. Der Sänger versuchte, einige Zeit lang seinem Blick standzuhalten und kapitulierte zuletzt mit einem ergebenen Seufzer. Er entfachte ein zweites Zündholz, steckte die Zigarette an und warf sie vor Ends Tür. End hob sie auf, führte die Zigarette zum Mund und zog daran.
Es war guuut.
Der beißende Tabakrauch füllte seinen Rachen. Er inhalierte ihn tief und genoss in vollen Zügen, wie der Ruß seine Lunge peinigte. Er behielt den Rauch einige Sekunden lang in sich und atmete ihn dann sehr langsam durch Mund und Nase wieder aus. Als könnte er sein Glück nicht fassen, betrachtete er den glühenden Stängel. Dann zog er sich in den hinteren Teil der Zelle zurück. Er ließ sich zu Boden sinken und nahm einen weiteren Zug.
„Und?“, fragte der Sänger.
End schwieg.
„Ich hätte es wissen müssen“, sagte der Sänger voller Bitterkeit. „Du bist nicht End. Du bist bloß ein Tunichtgut. Ein Dieb. Oder Schlimmeres. Was sollte ich anderes von dir erwarten, als dass du meine Bezahlung nimmst und mich leer ausgehen lässt? Deswegen sitzt du ja schließlich ein. Deswegen oder wegen Schlimmerem.“
End antwortete nicht. In aller Ruhe rauchte er seine Zigarette auf. Der Sänger zog sich ebenfalls zurück und ließ sich auf seine Matratze sinken. Er drehte sich auf die Seite und kehrte somit der Zellentür den Rücken zu.
Und wieder waren Rauschen und Surren das Einzige, das man vernehmen konnte.
Schließlich wandte End das Gesicht dem Sänger zu und stieß den Rauch seines letzten Zuges aus.
„Ich bin er“, sagte er.
Der Sänger hob überrascht den Blick. „Wer?“
„End. Ich bin Godric End.“
Ein Raunen ging durch den Gang des Zellenblocks. Der Junge schnappte vernehmlich nach Luft.
„Er lügt“, sagte jemand.
„Nein“, flüsterte der Sänger und erhob sich langsam von der Matratze. Den Blick behielt er unverwandt auf End gerichtet, als fürchtete er, er könne sich in Luft auflösen. „Er ist es. Er ist es wirklich.“
„Unsinn. End ist tot.“
„Er ist hier“, sagte der Junge. Seine Worte überschlugen sich fast vor Aufregung. „Er wird uns hier rausholen.“
„Wieso bist du hier?“, flüsterte der