Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens


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22. FRÜHLINGSMOND 1713, RUHENACHT

      Zur Feier des Viertendes gingen Ed und ich ins Ampère. Bei einem kalten Bier erzählte ich ihm von der Begegnung mit Emily.

      „Eine harte Nuss“, kommentierte Ed.

      Ich nickte mit resignierter Miene.

      „Es gibt nicht viele Studentinnen. Sie wird ihren Platz an der Universität nicht für ein Schäferstündchen riskieren.“ Er trank einen Schluck. „Trefft ihr euch wieder?“

      „Am achtundzwanzigsten“, sagte ich und nahm meinerseits einen Schluck. „In der Bibliothek. Sie wird wissen wollen, wie mir das Buch gefallen hat.“

      Ed sog zischend die Luft. „In der Bibliothek?“ Er schüttelte den Kopf. „Sie wird sich langweilen.“

      „Sie mag Bücher.“

      Ed wirkte nicht überzeugt. „Das ändert doch nichts daran, dass es dort nach Staub riecht.“ Ich war drauf und dran, Ed zu erklären, dass die Luft in der Bibliothek keineswegs nach Staub roch. Sie roch nach altem Papier, würzigem Leder und verborgenem Wissen. Ich schluckte die Worte hinunter. Ed hätte doch nur gelacht und mich einen verträumten Poeten genannt.

      „Hör mir gut zu, denn ich sage dir jetzt, wie du sie im Handumdrehen um deinen Finger wickelst.“ Ed legte eine dramatische Pause ein, indem er noch einen Schluck Bier trank. „Geh mit ihr ins Coffee-House Calvin. Warst du schon mal dort?“ Ich nickte. Das Café befindet sich ganz in der Nähe vom Campus und ist ein beliebter Aufenthaltsort der Studenten. „Gut“, fuhr Ed fort. „Dieses Buch mit den Mythen bietet schon mal guten Gesprächsstoff. Hör ihr aufmerksam zu, und wenn sie aufhört zu reden, sprich aus, was dir gerade in den Sinn kommt. Halte Blickkontakt und vergiss nicht, zu lächeln, sonst glaubt sie noch, du wärst aus Sankt Laplace geflohen. Sprich immer so laut, dass sie dich verstehen kann, und wenn sie etwas Kluges oder Witziges sagt, belohnst du sie mit einer beiläufigen Berührung. Ungefähr so …“ Ed gab ein überzeugendes Lachen von sich. Dabei legte er die Hand für die Dauer eines Herzschlages auf meine. Unsere Blicke trafen sich, und er zog die Hand ohne Hast wieder weg.

      „Oh, Eddie“, säuselte ich mit gespielt hoher Stimme. „Du bist so ein Schatz. Ich will sofort mit dir in die Kiste.“

      Ed prostete mir zu und trank noch einen Schluck Bier. „Du würdest staunen“, sagte er. „Wenn ich möchte, gehe ich in eine der Kneipen der Promenade und komme eine Stunde später mit einem willigen Mädchen wieder heraus.“

      „Ich weiß“, entgegnete ich kühl. „Dein Bett quietscht, Ed. Und das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“

      „Stimmt“, sagte Ed grinsend. „Ich dachte bloß, du freust dich für mich.“

      Ich verdrehte die Augen, konnte ein Lächeln aber nicht unterdrücken.

      W. D. Walker

       29. FRÜHLINGSMOND 1713, LOHNTAG

      Die Mythen der norvolkischen Stämme, die vor hunderten von Jahren unser Land bevölkert hatten, waren unterhaltsam. Aber hätte mich vor zwei Tagen jemand gefragt, ob sie auch lehrreich seien, ich hätte diese Frage vehement verneint. Nach dem gestrigen Treffen mit Emily müsste ich meine Antwort allerdings überdenken.

      „Du denkst, dass nichts davon wahr ist“, konstatierte sie und sah mich herausfordernd an, nachdem ich ihr gegenüber die Mythen als unterhaltsame Märchen bezeichnet hatte. Sie trug heute keine Brille und hatte ihr braunes Haar mit einer Schleife zusammengebunden. Es kostete mich große Willenskraft, nicht ständig hinzusehen. Sie selbst hatte vermutlich nicht einmal einen Blick in den Spiegel darauf verwendet.

      Wir hatten die Bücher zurückgegeben und an einem der Tische im Coffee-House Calvin nahe beim Fenster Platz genommen.

      „Glaubst du etwa, dass sie wahr sind?“, fragte ich. „Dass der Götterbildner Tyr die erste Frau in Eis meißelte? Dass er Kinder mit ihr zeugte, die Ea und Stahl hießen und halb Gott und halb Eismensch waren? Glaubst du an böse Geister und daran, dass Stahl sie in die Schattenwelt hinter die Spiegel bannte?“

      Zu meiner Beruhigung schüttelte Emily den Kopf. Ich wartete, während sie an ihrem brühend heißen Kaffee nippte.

      „Ich glaube nicht, dass sie wahr sind“, sagte sie schließlich und setzte mit einem leisen Klirren ihre Tasse ab. „Ich glaube an nichts, aber ich halte alles für möglich. Ich muss mich damit abfinden, dass ich die Wahrheit nicht kenne. Diese Mythen liefern eine Erklärung für die Existenz. Sie lassen sich nicht beweisen, lassen sich aber auch nicht widerlegen.“

      „Es gibt deutlich plausiblere Theorien für die Entstehung des Lebens“, begehrte ich auf.

      „Keine dieser Theorien lässt sich endgültig beweisen“, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort und bekundete damit mehr Schneid, als ich ihr zugetraut hätte. „Aber jede Theorie wird irgendwann widerlegt. Du kannst an die Mythen der Norvolken glauben oder an wissenschaftliche Theorien, wenn dir das lieber ist. Aber der Wahrheit kommst du nicht näher, egal wie du dich zuletzt entscheidest.“ Ich schwieg einen Augenblick, während ich über ihre Worte nachdachte. Dann nickte ich anerkennend.

      „Ich stimme dir zwar nicht zu“, sagte ich. „Aber ich stimme dir auch nicht nicht zu.“

      Sie lächelte. „Freut mich, dass wir uns nicht uneinig sind.“

      Beim Abschied fragte ich beiläufig, ob sie schon einmal das Hafenviertel von Treedsgow gesehen habe.

      Sie verneinte. „Ich hörte, dass dort ein Dampfschiff ankert.“

      „Als ich zuletzt dort war, war es noch da“, sagte ich. „Wir könnten hingehen und es uns zusammen ansehen.“

      Emily blickte zerstreut ins Leere. Ich schluckte schwer, während die gelassene Maske, die meine Unsicherheit verbarg, zu rutschen drohte. Lieber hätte ich Dr. Carter, unserem Professor in Physik, einen Kuss auf die runzeligen Lippen gedrückt, als ihr Zögern eine Sekunde länger ertragen zu müssen. Unstete Gedanken jagten durch meinen Kopf. Sollte ich etwas sagen? War doch nur ein Scherz. Ich gehe jetzt. Vielleicht trifft man sich ja mal wieder. Oder auf eine Antwort warten? Ich stellte mir vor, wie ich aufsprang, ihr meinen Stuhl in den Weg warf und fortrannte.

      „Das würde mich sehr freuen“, sagte sie, und eine so große Last fiel mir vom Herzen, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn ich vom Boden abgehoben hätte.

      Emily sah aus dem Fenster. Ihr Blick war geistesabwesend, wenngleich nicht in die Ferne gerichtet … eher so, als sähe sie etwas in der Spiegelung des Fensterglases.

      W. D. Walker

       31. FRÜHLINGSMOND 1713, RUHENACHT

      Soeben kehrte ich von meinem jüngsten Treffen mit Emily zurück.

      Ich holte sie an diesem Nachmittag vor ihrer Wohnungstür ab. Als sie die Tür öffnete, wurde ich von ihrem Anblick regelrecht überfahren. Sie trug anders als bei unseren ersten beiden Begegnungen weder Rock noch Bluse, wie es für Studentinnen üblich ist, sondern ein hochgeschlossenes, weißes Kleid. Außerdem eine Mantille um die Schultern und einen großen Sommerhut aus Stroh.

      Ich schenkte ihr ein Lächeln und bot ihr den Arm dar. Sie hakte sich ein, ohne zu zögern, und wir spazierten hinunter ins Hafenviertel.

      „Ist das ein Glücksbringer?“, fragte ich mit Blick auf einen winzigen Stoffbeutel, der an einer Lederschlaufe um ihren Hals hing. Emily blickte überrascht an sich hinab und ließ den Beutel kurzerhand unter dem Stoff ihres Kleides verschwinden.

      „Es ist ein Mojo“, erklärte sie widerwillig. „Ein Talisman origonischen Ursprungs.“

      Ich lachte. „Ein Talisman? Mit magischen Kräften?“

      In Erwartung, ein klares Nein zu hören, wirkte ihr Schweigen lang, beinahe verlegen. Glaubte sie etwa tatsächlich an die übersinnlichen Kräfte von Talismanen?

      „Es hat natürlich keine Zauberkräfte“,


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