Muss ich dir die Wahrheit sagen? Der dramatische Arztroman. Sandy Palmer
Mit einem langen Schritt war Dr. Munther wieder an seinem Platz. Präzise und knapp kamen seine Worte und Anweisungen, die in der Hauptsache Schwester Barbara betrafen.
„Eine Injektion! Schnell! Beeilen Sie sich! Ich muss den Kreislauf stützen! Und machen Sie vorsichtshalber Strophantin fertig. Falls es nicht anders geht, bekommt er eine Spritze direkt ins Herz.“
Minutenlang arbeiteten die Ärzte verbissen, dann endlich war es geschafft: Der Kreislauf wurde stabiler, der Blutdruck regulierte sich. Dr. Tatjana Holldorf war zufrieden.
„Das war in letzter Minute“, seufzte sie auf, als der Patient endlich fertig verbunden auf die Intensivstation gefahren wurde.
„Sie haben recht“, stimmte ihr Dr. Breitner zu.
„Ich hätte bis zum Letzten gekämpft.“ Dr. Munther, der an sich recht schweigsam war und seine Pflicht tat, ohne viel Gefühl zu zeigen, wischte sich über die Stirn. „Es wäre zu blamabel gewesen, wenn gerade dieser Eingriff misslungen wäre. Der Professor hätte es uns nie verziehen.“
Und Ihre Eitelkeit es Ihnen auch nicht, dachte Barbara respektlos, während sie schweigend die Instrumente beiseite räumte.
In den letzten Stunden war ihre Abneigung gegen den Oberarzt noch gewachsen. Sie wusste im Grunde selbst nicht recht, was sie eigentlich gegen ihn hatte. Sie wusste nur eins: Er hatte Professor Gerstenbach beleidigt. Und das konnte sie ihm aus einem ganz bestimmten Grund, der jedoch ihr Geheimnis war, nicht verzeihen.
3
„Guten Morgen, Herr von Wietershausen. Wie fühlen Sie sich denn heute?“ Mit einem berufsmäßig freundlichen Lächeln betrat Tatjana Holldorf das elegant eingerichtete Krankenzimmer der Privatstation, in dem der Unfallpatient lag, der am vergangenen Sonntag eingeliefert worden war, und dem sie Erste Hilfe geleistet hatte.
„Wenn ich Sie sehe, Gnädigste, dann fühle ich mich direkt viel besser.“ Der Mann im reinseidenen Schlafanzug richtete sich ein wenig auf, soweit dies die Gipsverbände und der Streckverband, den er um die Rippen trug, zuließen.
Tatjana trat an das Bett heran und reichte dem Patienten die Hand. Es war seltsam, sonst tat sie so etwas nicht, doch bei Graf Max von Wietershausen machte sie eine Ausnahme.
Geschah das nur, weil er einen Adelstitel trug, weil er offenbar aus altem, blaublütigem Geschlecht war?
Nein, gestand sich die rothaarige Ärztin ein, es war etwas anderes, was sie dazu trieb, bei Max von Wietershausen ihre spröde Zurückhaltung aufzugeben:Er gefiel ihr als Mensch, als Mann, und zwar besser als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte. In der Nähe dieses Mannes wurde sie ihrem Vorsatz, ihr Leben nur in den Dienst der Kranken zu stellen, schwankend.
„Was verschafft mir die seltene Ehre?“ Der Graf lächelte Tatjana charmant an.
Obwohl er sich nicht allzu viel bewegen konnte, machte er keineswegs den Eindruck, krank und hilfsbedürftig zu sein. Vielmehr gab er sich auch in dieser Situation weltmännisch gewandt, was vor allen Dingen auf die jungen Schwestern, die ihn betreuten, ungeheuren Eindruck machte. Darüber vergaßen sie ganz, dass er ihnen in all den Tagen, die er schon auf der Station war, noch nicht ein einziges Mal Trinkgeld gegeben hatte.
Sogar Schwester Dora, die in ihrem zweiten Lehrjahr war, hatte nichts von ihm bekommen, als sie für ihn in die Stadt gefahren war, um ihm drei seidene Schlafanzüge und einen ebenfalls seidenen Morgenmantel zu kaufen.
„Ich kann mich nicht an die Anstaltshemden gewöhnen, die man mir nach meiner Einlieferung übergezogen hat, mein liebes Kind“, hatte Graf Wietershausen mit einem charmanten Lächeln gesagt. „Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, für mich in die Stadt zu gehen und bei einem erstklassigen Herrenausstatter ein paar Schlafanzüge und einen Morgenmantel aus Seide für mich zu kaufen? Ich kann es leider nicht selbst erledigen und auch meinen Butler nicht bitten, extra deswegen die vielen hundert Kilometer zu reisen, nur um mir hier ein paar kleine Handreichungen zu erledigen.“
Dies hatte er so selbstverständlich gesagt, dass die junge Schwester keinen Grund hatte, an seinen Worten auch nur den geringsten Zweifel zu haben. Im Gegenteil, sie fühlte sich geschmeichelt, dass der hohe und vornehme Patient gerade sie dazu ausersehen hatte, ihm diese Gefälligkeit zu erweisen.
„Es ist mir ein großes Vergnügen, Herr Graf“, sagte sie und wurde über und über rot dabei, „Ihnen die gewünschten Sachen zu besorgen. Wenn Sie sonst noch irgendwelche Wünsche haben, ich stehe jederzeit gern zur Verfügung.“
Und so kam es, das Schwester Dora in den vier Tagen, die Graf Wietershausen jetzt schon in der Klinik lag, dreimal für ihn in die Stadt fuhr, um ihm Toilettensachen und sonstige Kleinigkeiten zu besorgen, die man nun einmal bei einem Krankenhausaufenthalt benötigte.
Schwester Dora dachte sich nichts dabei, dass der Graf ihr niemals Bargeld in die Hand drückte, sondern erklärte, er würde die Rechnungen, die sie mitbekam, per Banküberweisung begleichen. Und auch die Geschäftsleute, die ihr die Sachen anstandslos gäben, nachdem sie ihnen die Visitenkarte des vornehmen Patienten vorgelegt hatte, zweifelten nicht eine Sekunde an der Lauterkeit dieses Mannes.
Jetzt lag Graf Wietershausen also in seinem Bett, vornehm wie kein Patient gekleidet, und strahlte Tatjana Holldorf an, die nicht recht wusste, wie sie sich verhalten sollte.
„Heute muss ich Sie ein paar unangenehmen Blutuntersuchungen unterziehen“, erklärte Tatjana Holldorf und gab sich daran, die mitgebrachten Instrumente, die sie dazu benötigte, auszupacken.
„Von Ihnen lasse ich mir alle Qualen gefallen“, erklärte der Mann und sah die junge Ärztin mit einem werbenden Lächeln an. „Wirklich, Frau Doktor, ich würde alles tun, nur damit Sie diese schreckliche Zurückhaltung, mit der Sie mir begegnen, endlich ablegten.“
„Ich benehme mich bei Ihnen nicht anders als bei den übrigen Patienten“, erklärte Tatjana, und schon in dem Moment, wo sie die Worte ausgesprochen hatte, ärgerte sie sich über sich selbst. Wie kam sie dazu, sich bei diesem Mann förmlich zu entschuldigen, dass sie ihn nicht hofierte?
Und aus dieser Wut über sich selbst, sagte sie unhöflich: „Von jungen unerfahrenen Mädchen können Sie erwarten, dass Sie auf charmantes Getue reagieren, und dass ihnen ein Adelstitel Respekt einflößt. Mich hingegen lässt so etwas kalt. Für mich, Herr Graf, sind Sie ein Patient wie alle anderen auch. Und jetzt reichen Sie mir bitte Ihren gesunden Arm, damit ich Ihnen etwas Blut abnehmen kann.“
„Für Sie meinen letzten Tropfen.“ Graf von Wietershausen konnte es nicht unterlassen, diese Bemerkung zu machen, was der Ärztin ein ärgerliches Stirnrunzeln entlockte.
„Jetzt sehen Sie zehn Jahre älter aus, als Sie sind“, bemerkte der Patient dazu.
„Was geht das Sie an?“ Tatjana wurde nun wirklich ärgerlich. „Sie sind hier, weil Sie einen Unfall hatten, und ich bin hier, um Ihre Verletzungen zu behandeln. Es sollte Ihnen egal sein, wie ich aussehe. Mich interessieren auch nur Ihre Blutbestimmungen, Leberwerte und andere medizinische Daten. Sonst nichts.“
Spröde stand sie auf, raffte ihre Utensilien zusammen und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
Die Stimme des Mannes hielt sie zurück: „Bitte, Doktor, seien Sie mir nicht böse. Ich habe es wirklich nicht so gemeint. Estut mir nur weh, wenn sich eine so hübsche Frau, wie Sie es sind, hinter einer Hornbrille versteckt, ihr Haar straff nach hinten gekämmt trägt und auch ansonsten alles tut, damit nur ja kein Mann sie attraktiv findet. Warum tun Sie so etwas? Mögen Sie uns Männer nicht?“
„Das geht Sie nichts an. Schlucken Sie die Ihnen verordneten Tabletten, und achten Sie darauf, dass Sie Ihr gebrochenes Bein nicht bewegen. Dazu sind Sie hier, nicht, um mich zu einem Mannequin umzukrempeln. Auf Wiedersehen, Graf Wietershausen.“
Die Tür des Krankenzimmers fiel hinter ihr ins Schloss – etwas lauter, als es gewöhnlich in einem Krankenhaus üblich war.
„Das war etwas