Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval. Bernhard Hennen
Gesang ein.
»Ich bin blau wie das Meer,
voll wie unser Laderaum,
breit so wie die Ärsche
von den Weibern auf Tortuga.
Ich bin blau wie das Meer,
geladen wie ein Bordgeschütz,
und dichter als der Nebel von Kap Hoorn.«1
»Es reicht jetzt«, erklärte Franz zornig. »Ich habe eine weiß gewandete Frau gesehen, bei der es sich um die Zauberin handeln könnte. Schnapp dir Karl und komm mit.«
Günther warf sich seinen Bruder, der keinen Mucks mehr von sich gab, über die Schulter. Dann gingen sie über den Marktplatz zurück.
»Dort unten ist ein Zelt, in dem zwei Chronisten über die Erlebnisse von zwei Seefahren berichten, die in irgendeinem Wettstreit sind«, erklärte Franz aufgeregt. »Wenn du mich fragst, übertreiben die völlig. Die Geschichten sind so unglaublich, dass ich mir sicher bin, dass mindestens die Hälfte gelogen ist. Dem Volk scheint es aber zu gefallen. Sie lachen und klatschen Beifall.«
»Was hat das mit der weißen Zauberin zu tun?«, fragte Günther schnaufend.
»Sie ist auch dort. Beeile dich jetzt! Es wäre fatal, wenn diese Amandara in unserer Nähe ist und wir sie trotzdem verlieren.«
»Wenn ich dir zu langsam gehe, kannst du Karl ja den Rest des Weges tragen«, gab Günther mürrisch zurück. Er schwankte leicht, was aber eher auf den genossenen Met zurückzuführen war als auf das Gewicht seines Bruders.
»Das sind die Arschlöcher!«
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich unterhalb der drei Brüder eine Gruppe von sechs jungen Männern auf. Günther erkannte einen der Burschen, die Franz am Morgen niedergeschlagen hatte. Die Kerle kamen den Hang herauf und hoben drohend die Fäuste. Waffen schienen sie keine zu tragen, ihre Überzahl würde einen Kampf aber zumindest ausgeglichen gestalten, zumal sich Karl noch immer nicht regte.
»Lauf!«, schrie Franz, drehte sich um und rannte an Günther vorbei den Hang hinauf. Weil der mit der Last seines Bruders zu kämpfen hatte, konnte er das Tempo nicht mithalten und spürte nach wenigen Schritten einen Schlag gegen den Hinterkopf. Er sah, wie Franz von einer zweiten Gruppe aufgehalten wurde, die ihm entgegenkam. Dann musste er sich um die Angreifer kümmern.
Günther ließ Karl auf den Boden fallen, drehte sich um und stellte sich zum Kampf. Die Fremden betrachteten ihn lauernd, wagten sich aber nicht näher an den Räuber heran. Schließlich begannen sie, Günther einzukreisen und kamen näher an ihn heran. Er suchte sich einen der Gegner aus und sprang auf ihn zu. Seine Fäuste trafen den Burschen an der Stirn und schickten ihn zu Boden. Im nächsten Moment hingen zwei der Angreifer an seinen Armen. Ein Dritter trat ihm in die Kniekehlen.
Günther kämpfte wie ein Berserker, konnte aber letztlich nichts gegen die Übermacht ausrichten. Er fühlte, wie ihm Blut von seiner Stirn in die Augen lief und seine Sicht trübte. Dann traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf. Der Räuber sah Sterne vor seinen Augen aufblitzen, die kurz danach von einem grauen Schleier verdunkelt wurden. Ein zweiter Treffer schickte ihn endgültig ins Reich der Träume.
Als Günther erwachte, lag er auf einem ebenen, kalten Steinboden und schaute direkt auf eine Reihe von Metallstäben, die so dicht nebeneinander angeordnet waren, dass sich selbst Karl zwischen ihnen nicht hindurchzwängen könnte. Er spürte stechende Schmerzen am Hinterkopf und hatte außerdem höllischen Durst.
»Bist du endlich wach?«, maulte Franz seinen jüngeren Bruder an. »Wir sitzen schon mindestens eine Stunde in diesem Loch.«
»Was ist mit Karl?« Günther setzte sich auf und sah Franz vor sich an der Wand sitzen. Karl lag zwischen ihnen und schnarchte zufrieden vor sich hin.
»Der ist so betrunken, dass er nichts um sich herum mitbekommt.«
»Was ist passiert?«
»Wir haben es wieder einmal gründlich versaut«, antwortete Franz. »Nachdem sie dich niedergeschlagen hatten, konnte ich mich nicht mehr gegen die Übermacht wehren und musste aufgeben. Es sind vier Männer in blauen Trachtenanzügen gekommen und haben uns in einen Wagen gebracht, der gefahren ist, ohne von Pferden gezogen zu werden.«
»Das ist Teufelswerk«, sagte Günther.
»Wie so vieles andere hier«, stimmte Franz zu. »Für uns spielt das jetzt aber keine Rolle mehr. Wir haben für dieses Mal verloren. Die Männer haben gesagt, dass man sich morgen früh um uns kümmert. Bis dahin werden wir nicht mehr hier sein.«
»Du willst fliehen?«
»Nein, du Volltrottel. Irgendwann in der Nacht sind die 24 Stunden vorbei. Dann werden wir wieder zehn Jahre in der Verdammnis leben.«
Günther verzichtete, seinen Bruder darauf hinzuweisen, dass es erneut dessen Schuld war, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Jetzt konnten sie nichts mehr tun und mussten auf das nächste Mal warten, dass sie die Welt der Sterblichen betreten durften. In der Kerkerzelle standen drei Betten. Er suchte sich eines davon aus und machte es sich bequem. Franz beobachtete seinen Bruder mürrisch, hielt aber ausnahmsweise seinen Mund.
1 Liedtext mit freundlicher Genehmigung von Mr. Hurley und die Pulveraffen von der CD Plankrock 2014
© privat
Teresa Hofmann
Teresa Hofmann liebt Geschichten, Musik und Nachdenken. Sie kommt aus Bayern und hat Philosophie und Filmwissenschaft in München und Mainz studiert. Wenn sie nicht studiert, dann ist sie oft im Kino, auf Festivals oder auf Reisen in fernen Ländern unterwegs. Zurzeit lebt sie in Leipzig.
Das Festival-Mediaval ist für sie Sehnsuchtsort und Quelle von Inspiration. Dort kann sie dem Eskapismus frönen und ihre Leidenschaft für das Fantastische und Düstere ausleben. Diese treibt sie außerdem zu eigenen künstlerischen Versuchen und literarischen Experimenten, die von Horrorgeschichten über philosophische Gedichte bis hin zu Reiseberichten reichen.
Die andere Seite der Idylle
1 Gemeinschaft
Wir sind wieder zusammen. Im Laufe des Nachmittags kommen wir an, bauen unsere Zelte auf, richten uns ein, begrüßen uns. Die erste Begegnung nach so langer Zeit ist herzlich, aber merkwürdig, wir haben Angst, uns nicht mehr zu kennen. Doch allmählich, spätestens als Katrin das Feuer entfacht und Anna beginnt, ihre Gitarre zu stimmen, verfliegt die Zaghaftigkeit zwischen uns. Wir setzen uns ums Feuer und öffnen das erste Bier. Tom und Beate legen die Arme umeinander und teilen den ersten zarten Kuss.
Wie wir alle treffen sie sich nur einmal im Jahr, für dieses Festival, und jedes Mal verlieben sie sich neu ineinander. Inzwischen dämmert es schon langsam und der Nebel kriecht vom Bach aus über die Wiese. Zum Glück campen wir dieses Mal ein Stück vom Wasser entfernt, da frieren wir nachts nicht so sehr. Gut, dass das Feuer schon brennt. Wir stoßen an.
Um uns herum ist der Campingplatz zum Leben erwacht, einige Gruppen sind schon angekommen, überall entfachen sich Feuer, Musik und fröhliche Stimmen. Nele packt den Met aus und Anna stimmt das erste Trinklied an. Als das Lied zu Ende ist, bemerken wir eine Gestalt, die sich still zu uns gesellt hat. Gerade außerhalb des Lichtscheins steht sie höflich im Nebel.
»Hey du!«, ruft Anna, »Komm näher und trink mit uns, wenn du magst!«
Die Gestalt tritt ans Feuer und streift ihre Kapuze zurück.
»Hallo, sehr freundlich von euch. Ich bin Michael«, sagt die Gestalt.
Einen kurzen Moment spricht niemand und nur das Knacken des Feuers ist zu hören. Denn Michaels Gesicht leuchtet