Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval. Bernhard Hennen
außer den in dieser Gruppe anwesenden Personen weiß davon Bescheid, und so soll es bleiben. Wenn wir noch mehr Anfragen dieser Art bekommen, werden die Bestände knapp … Alles in allem …«
Ich hole tief Luft: »… erhaltet ihr durch mich Odins Segen, den Skaldenmet der Asen, den der Göttervater einst selbst nach Asgard brachte, um ihn an eure Künstler auszuschenken. Er soll ihre Stimme wohlklingend, ihre Lieder und Geschichten ergreifend und diese Veranstaltung unvergesslich machen!«
Meine letzten Worte verlieren sich in einem freudigen Geklatsche und Gejohle. Sämtliche Blicke der Umstehenden sind plötzlich auf uns gerichtet. »Bitte, Diskretion!«, zische ich und bringe die Freudenrufe damit jäh zum Verstummen. Ich löse mich aus der Runde und hole aus meiner Gürteltasche eine kleine, bronzene Medaille. Es ist das Abbild eines Wal-Knotens, eines dreifach in sich geflochtenen Knotens, unscheinbar, äußerlich kaum von der Ware der Händler zu unterscheiden. Mit einem Nagel und einem Hammer treibe ich ihn in einen der Balken am Eingang des VIP-Zeltes und murmele darüber einen Segensspruch. Nun ist es offiziell. Beziehungsweise – offizieller wird es nicht. Die Headorga hat mich am Anfang doch tatsächlich gefragt, ob ich ihnen – wenn ich schon eine Genehmigung ausspreche – etwas Schriftliches ausstellen könne. Kaum vorzustellen! Ein Zertifikat über Göttersegen! Nein, bei allen neumodischen Sitten, solche Verfahrensweisen würden hoffentlich niemals Brauch werden.
»Eines noch,« wende ich mich an den Kopf des Organisationsteams. Mir ist mittlerweile ein Gedanke gekommen. »Ich habe bei meiner Prüfung einen vermutlich gefährlichen Gegenstand festgestellt. Ich werde überprüfen, ob er wirklich echt ist. In diesem Fall werde ich ihn konfiszieren.«
Die Headorga wirkt nur verhalten begeistert. »Tatsächlich? Um welche Art Gegenstand handelt sich denn?«
»Einen Schwanenmantel.«
Er zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Und das heißt?«
Ich atme genervt aus. »Die Haut einer offensichtlich toten Walküre.«
Der junge Mann, der mich während des gesamten Kontrollganges begleitet hat, folgt mir wieder zu dem Gewandungsstand zurück. Auf wundersame Weise ist der schön drapierte Schwanenmantel auf einmal neben dem Eingang verschwunden und im Inneren des Zeltes aufgebaut. Dort erhascht ein Vorbeilaufender auf ihn erst im zweiten Anlauf einen Blick. Der Verkäufer ahnt Böses, als er uns wiederkommen sieht. »Gibt es immer noch Probleme wegen des Mantels?«, fragt er mich zur Begrüßung und ich spare mir ebenfalls Floskeln: »Ich werde prüfen, ob er ist, was ich glaube. In diesem Fall konfisziere ich den Mantel.«
»Mit welchem Recht?«, faucht der Verkäufer, entlockt mir jedoch nur ein mildes Lächeln. »Das werdet Ihr dann sehen! Wenn er ist, was ich glaube, gehörte er einer Tochter Odins und nicht in Menschenhand!«
Hilfesuchend blickt der Verkäufer zu meiner Begleitung aus dem Orga-Team, dieser mahnt ihn jedoch, es mich wenigstens probieren zu lassen. Womöglich sei der Mantel überhaupt nicht echt. Widerwillig nimmt der Verkäufer das Federgewand daher vom Kleiderständer und legt es mir um die Schultern.
Ein Schauer überkommt mich. Kaltes Leder liegt auf meiner Haut, berührt meinen Nacken, scheint durch meine Kleidung zu dringen. Alle Zweifel sind wie ausgelöscht. Es geschieht, was mir seit so vielen Jahrhunderten vertraut ist wie kaum etwas anderes. Ich schließe die Augen, spüre die fremde Haut meiner Schwester, ihre wird zu meiner. Was gerade noch Kleidung war, wird nun Teil meines Körpers. Ich achte nicht auf die erstaunten Blicke der Umstehenden, fühle nur noch, wie meine Gestalt sich verwandelt, die menschliche Erscheinung dem Körper eines Schwanes weicht.
Ich habe mich also nicht getäuscht. Eine Windböe gibt mir den Auftrieb, um von der Wiese abzuheben. Bald darauf sehe ich das Festivalgelände auf dem Goldberg unter mir liegen. Hier ist meine Arbeit getan. Nun muss ich herausfinden, was es mit dem Mantel auf sich hat. So schnell ich kann, kehre ich zurück nach Walhalla.
© privat
Billie Przegendza
Die Autorin ist Jahrgang 1973, seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt in Eisenberg/Thüringen und hat eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert. Sie arbeitete in ihrem Leben aber auch schon als Piratin, mittelalterliche CD-Dealerin und Wichtel in einem Supermarkt. Aktuell ist sie in einem Nachhilfeinstitut als Büroleitung, Lehrkraft und »gute Seele« tätig. Billie Przegendza ist überzeugter Grufti, ab und zu LARPerin, Redakteurin für das UnArt Webzine und schreibt sonst vorrangig steampunkige Kurzgeschichten, die in der Ætherwelt von Anja Bagus spielen. Wenn sie nicht gerade schreibt (oder häkelt), engagiert sie sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik ihrer Heimatstadt, wo sie im Kulturausschuss mitarbeitet.
Auf dem Festival-Mediaval hat Billie quasi eine Inventarnummer, denn sie ist seit der ersten Auflage im Jahr 2008 jedes Jahr dabei – zuerst als Händlerin und seit 2011 als Pressevertreterin.
www.unart.tv
Tanz auf dem Balkon
September 2015 – die Sonne schien durch das Fenster und kitzelte Enis’ Nase. Der junge Mann erwachte und lächelte, bis ihm schlagartig bewusst wurde, dass er nicht in seinem eigenen Bett lag. Obwohl, irgendwie war es jetzt schon »sein« Bett. Das stand allerdings nicht in Aleppo, sondern in einem Land weit weg von Syrien. Der Syrer war in Deutschland gelandet, in einer kleinen Stadt, die Selb hieß und dort wohnte er in einem ehemaligen Hotel – wie ungefähr einhundert weitere Männer, Frauen und Kinder. Vor dem Fenster hörte er die Vögel singen. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, manchmal sogar die Polizei oder ein Rettungswagen – fast wie zu Hause. Auf der anderen Straßenseite lag ein Park mit großen Bäumen, einer grünen Wiese und ein Stück den schmalen Weg hinunter gab es sogar einen kleinen See. Für Enis hätte es sich fast wie Urlaub anfühlen können – aber das tat es nicht, denn seine Reise war alles andere als ein Ferientrip.
Ständig erinnerte ihn alles in seinem Leben daran, dass er tausende Kilometer hinter sich hatte – zu Fuß, auf kleinen Karren, über das Meer. Die Angst hatte ihn und seine Familie aus Aleppo vertrieben. Dort fielen Bomben, Schüsse peitschten nahezu pausenlos durch den Tag und die Nacht, Menschen schrien und weinten und viele von seinen Freunden waren entweder tot oder verschwunden.
Glücklicherweise hatte Enis’ Vater eine Arztpraxis, so dass zumindest das Haus von den Heckenschützen und Plünderern verschont geblieben war. Doch vor ein paar Monaten war es selbst dort nicht mehr sicher und die Familie entschloss sich, Enis und seinen Bruder loszuschicken, um in einem fernen Land in Europa ein besseres Leben zu finden. Sie kratzten die letzten Ersparnisse zusammen und die beiden jungen Männer machten sich auf den Weg ins Ungewisse. Seine Eltern packten das Nötigste zusammen und gingen aufs Land zu Verwandten, weg aus der Stadt. Sie würden klarkommen, hatte ihm der Vater versichert und gab ihm als letztes Geschenk ein nagelneues Smartphone. Das hatte der Arzt als Bezahlung von einem Patienten bekommen, ein älteres Modell zwar, aber es erfüllte seinen Zweck – die Verbindung zur Familie aufrechtzuerhalten.
Enis lag mit offenen Augen auf dem Bett und versuchte, sich an die Reise zu erinnern, aber das fiel ihm schwer. Immer, wenn er die Augen schloss, hörte er nur Schreie und Schüsse. Er sah weinende Kinder in einem überfüllten Schlauchboot – mitten auf dem Meer. Sie weinten stumm, damit die Menschen auf dem Boot nicht gehört wurden. Ihre Mütter hielten ihnen die kleinen Münder zu und beteten still zu Allah, dass sie die Überfahrt heil überstehen. Am Strand weinten einige Mütter, weil ihre Kinder es nicht geschafft hatten. Sie waren verdurstet oder ins Wasser gefallen und ertrunken. Enis spürte eine Träne im Augenwinkel, er zitterte am ganzen Körper und musste sich erst beruhigen, bevor er sein Zimmer verlassen konnte. So war es jeden Tag! So war es jede Nacht vor dem Einschlafen!
Später in dieser Woche bemerkte der Syrer einige Menschen im Park gegenüber. Sie liefen über die Wiese und sahen sehr beschäftigt aus. Viele junge Leute waren dabei und es schien, soweit es Enis von seinem Balkon aus sehen konnte, als ob sie etwas vorhatten. Auf der Wiese bauten sie in den nächsten Tagen eine große Bühne auf. Sie hingen den Zaun mit großen Bannern zu und ständig kamen LKWs an. Oft