WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten. Ted Staunton

WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten - Ted Staunton


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es mit dir auch nicht leicht, du warst immer ziemlich wild und so. Okay? Aber dann, als es richtig schlimm wurde … sie hat sich Vorwürfe gemacht. Sie hat gesagt, es sei alles ihre Schuld und dass Da… dass du deshalb weg bist. Sie und Ty waren völlig fertig. Ty ist durchgedreht, als du verschwunden bist. Es kann sein, dass das mal jemand erwähnt. Aber weißt du, was?« Shan versagte die Stimme. Sie kramte ein Papiertaschentuch hervor. »Es hat Mom dazu gebracht, mit dem Trinken aufzuhören. Und sie nimmt auch keine Drogen mehr. Sie ist clean. Und nüchtern. Ty geht es jetzt auch viel besser. Er wohnt inzwischen in Peterborough. Ist das nicht großartig? Und jetzt wird alles wieder gut werden, weil du wieder da bist. Es wird für alle ein neuer Anfang sein.« Sie weinte, während sie sprach.

      Ich nickte wieder. Mehr konnte ich im Moment nicht tun, weil das Flugzeug gerade wild herumgeschüttelt wurde. Ich starrte stur auf den Fernsehbildschirm vor mir. Ich klammerte mich an die Armlehnen. Als es wieder ruhiger wurde, sagte ich: »Ich bin noch nie geflogen.«

      »Ach, Danny, ist schon okay«, hickste sie durch ihre Tränen hindurch. »Als Roy und ich mit den Kindern nach Orlando geflogen sind …«

      Ich ließ sie reden, bis sie einnickte. Sie hatte mir gesagt, dass sie seit dem Telefonanruf keine Minute geschlafen hatte. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte.

      Ich war auch müde, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Wie ich schon sagte, es war fast zu leicht. Vielleicht war ich einfach nur fürchterlich aufgedreht, aber als ich sicher war, dass sie schlief, durchsuchte ich Shans Umhängetasche. Eigentlich wusste ich gar nicht, wonach ich suchte, vermutlich war es reine Gewohnheit. Ich fand Kaugummi, Papiertaschentücher, Make-up, eine Haarbürste, einen Kugelschreiber, ein dickes Taschenbuch mit dem Titel Flammende Herzen, eine Sonnenbrille, Tampons, Kopfschmerztabletten, eine herausgerissene Zeitungsseite mit einem halb fertigen Sudoku, eine Telefonrechnung für 26 Yardley Street, Port Hope, ON, ein Portemonnaie, ihren Reisepass, das Fotoalbum.

      Es passte alles. Ich nahm zehn kanadische Dollar aus ihrem Portemonnaie. Sie hatte über hundert dabei, daher ging ich davon aus, dass es ihr nicht sofort auffallen würde. Die Scheine hatten alle eine andere Farbe, wie das Geld bei Monopoly. Lass dir nie eine Chance entgehen. Ich wollte die Geburtsurkunde haben, die sie für mich am Flughafen vorgezeigt hatte – da Danny fünfzehn war, brauchte er keinen Reisepass –, ließ sie aber fürs Erste, wo sie war. Ich stopfte den Zehner in eine Tasche meiner Shorts und nahm mir die Bilder vor. Das Fotoalbum war brandneu. Shan hatte gesagt, dass sie es extra für mich gemacht hatte. Die Bilder sahen echt aus. Warum sie hätten gefälscht sein sollen, weiß ich nicht. Inzwischen war ich so paranoid und so müde, dass ich alles durcheinanderbrachte.

      Ich sah mir Roy an, der seine Rettungsringe in einem Poloshirt zur Schau stellte und die Arme um kichernde Kinder gelegt hatte, dann Oma und Opa, in Klappstühlen vor ihrem Wohnmobil in Florida sitzend. Ich fragte mich kurz, ob ich sie schon mal gesehen hatte. Harley und ich waren im letzten Winter einen Monat dort unten gewesen und hatten auf Rentner-Campingplätzen Spenden gesammelt, für eine Wohltätigkeitsorganisation, die es nicht gab. Den spindeldürren Bruder, Tyson, mit einem Bier, einer Vokuhila und ein paar dilettantischen Tattoos. Er sah aus wie Stacheldraht, den man in ein T-Shirt gesteckt hatte. Und Mom Carleen wirkte in etwa so kuschelig wie ein Baseballschläger, daran konnte selbst die Weihnachtsmütze nichts ändern.

      Was auch immer ich suchte, ich fand es nicht. Wenn Shan tatsächlich die echte Shan war, sah ich jedenfalls keinen Grund dafür, warum sie mir etwas vormachen sollte. Ich verdrängte den Gedanken; es gab schon genug, worüber ich mir Sorgen machen musste. Der Bildschirm in der Lehne vor mir zeigte jetzt eine Landkarte an, auf der ich sehen konnte, wo sich das Flugzeug gerade befand. Es würde nicht mehr lange dauern, höchstens zwei Stunden. Ich blätterte das Fotoalbum durch und starrte in all diese Augen. Sie hatten Danny seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Würden sie mir glauben? Würde mir auch nur einer von ihnen glauben? Wie lange? Lange genug, um herauszufinden, wie mein nächster Schritt aussehen sollte? Und was, wenn Josh es herausgefunden und in Kanada angerufen hatte? Was, wenn die Cops schon auf mich warteten? Würden sie mir Fingerabdrücke abnehmen? DNS? Ich schloss die Augen. Denk nicht zu viel nach. Welche Möglichkeiten hatte ich? Entweder das oder zurück in die Böse Zeit. Früher oder später würde ich weglaufen müssen. Weglaufen konnte ich gut. Wenn es dort oben in Kanada nicht gerade schneite, konnte ich jederzeit weglaufen.

      Ich musste geschlafen haben, denn plötzlich spürte ich einen Ruck und dann landeten wir. Die Sonne ging gerade unter. Es schneite nicht. Es war Sommer. Es gab keine Cops, keine Fragen, keine Anrufe von Josh. Ich fühlte mich, als wäre ich aus Glas. Bei der Einwanderungsbehörde schnappte ich mir Dannys Geburtsurkunde, als der Beamte sie uns zurückgab. »Okay, ja? Das Ding gehört mir, stimmt’s? So fühle ich mich sicherer.« Ich stopfte sie in dieselbe Tasche wie das Geld und rammte mir die Sonnenbrille auf die Nase. Wir gingen auf ein Schild zu, auf dem ZOLL stand. Dahinter befanden sich Schiebetüren aus Glas. Und was dahinterlag, war völlig offen. Jetzt konnte ich weglaufen. Als wir durch die Türen gingen, packte Shan meine Hand. Während ich noch versuchte, sie abzuschütteln, hörte ich ein »Da sind sie!«. Leute stürzten auf uns zu. Ich schrie auf und wollte weg von Shan, aber sie ließ mich nicht los. Ich schlug auf sie ein. Und dann erstickte ich in einer Menschentraube.

      »Oh mein GOTT!«

      »… dachte, wir würden den Tag nicht mehr erleben …«

      »… gehofft und gebetet …«

      Es war die Familie. Später habe ich mir Fotos davon angesehen. Sie hatten ein Spruchband mit Willkommen zu Hause dabei. Mein Lächeln sah aus, als hätte es mir jemand an die Zähne geklebt. Jedes Mal, wenn mich jemand packte und an sich drückte, dachte ich, ich würde auseinanderbrechen.

      Irgendwann ließ das Gelächter, das Klatschen, das Weinen nach. Jemand, Opa vielleicht, rief: »Jetzt lasst ihn doch auch mal reden! Danny, was hast du uns zu sagen?«

      Ich wusste nicht, ob ich reden konnte. Ich machte den Mund auf. »Lasst uns was essen«, kam heraus.

      Sie lachten sich krumm.

      »Was willst du haben, Kleiner?«, sagte ein Typ, der vermutlich Onkel Pete war.

      »Chicken Wings«, sagte ich. »Was sonst?«

      Sie lachten wieder.

      Das Essen bei Boston Pizza verlief reibungslos. Niemand fragte zu viel. Ich sagte, ich sei müde, was auch stimmte, behielt den Kopf unten und hörte aufmerksam zu. Der einzige heikle Moment kam, als wir uns hinsetzten. Eine kostenlose Mahlzeit würde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen, aber ich setzte mich so an den Tisch, dass ich leicht entwischen konnte. Inzwischen hatte ich in Gedanken die Leute den Bildern aus dem Fotoalbum zugeordnet. Da fehlte jemand. Ich wusste, dass ich fragen musste.

      »Hey«, sagte ich. »Wo ist Mom? Und was ist mit Ty?«

      Eine Sekunde lang bekam ich keine Antwort. Dann sagte Onkel Pete: »Sie müssen arbeiten. Ty ist bei General Packing. Und deine Mom ist in dem neuen Supermarkt in Cobourg. Wie heißt der noch mal?«

      »Green Leaf«, sagte Oma.

      »Sie arbeitet immer abends, Danny«, erklärte Shan. »Du bleibst erst mal eine Weile bei uns. Wir wollen nicht, dass du allein bist.«

      »Scheiße«, sagte ich. Und dann: »Ich meine, dass sie nicht kommen konnten.« Sie lachten schon wieder. Ich konnte es nicht fassen. Langsam kam ich mir vor wie ein Komiker.

      Als wir auf dem Highway waren, begann ich, mich zu fragen, ob ich die Sache nicht vielleicht durchziehen sollte. Nicht für immer, nur so lange, bis ich etwas Geld beschafft und einen Plan hatte. Danny wurde am 9. November sechzehn. Danach würde mich niemand mehr zurückholen können. Was, wenn ich zurück in die Staaten ging, wenn ich eine Nachricht hinterließ, in der ich schrieb, dass ich sie alle furchtbar gern hätte, aber viel zu verkorkst sei? Während der Fahrt, als ich mir mit den


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