Gesammelte Erzählungen und Gedichte. Joachim Ringelnatz

Gesammelte Erzählungen und Gedichte - Joachim  Ringelnatz


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ihn klar: Er ist ein nüchterner, lustwandelnder Herr in den hohen Fünfzigern, von ordentlicher, gediegener, wenn auch unmoderner Kleidung; er ist ja, wie sein Hut meldet, Künstler. Die Dame bittet ihn mit gewöhnlichen Phrasen um Angabe der Zeit, der Künstler macht eine übertriebene Verbeugung und entgegnet mit scharfen Betonungen und häufiger Unterbrechung: »Es t -t -tut mir leid, mein verehrtes Fräulein, meine Uhr ist beim Uhrmacher. Der ging’s nämlich wie Ihnen. Bald ging sie vor, bald ging sie nach, bald blieb sie stehen, aber, wissen Sie, was bei meiner Uhr Tiktak war, d -d -das scheint bei Ihnen Taktik.« Ohne weiteres verläßt er damit die Dame, krächzt und freut sich, einen älteren Witz gut angebracht zu haben.

      O, er hat an diesem Tage besondere Erlebnisse. Abends, am Meer, oberhalb des Abhanges, erkennt er eine Freundin, welche einst – es mag zehn Jahre zurückliegen – in München eine wechselreiche Künstlerzeit mit ihm durchgemacht hat. Sie haben niemals etwas wie Liebe füreinander empfunden, aber sind sich doch recht vertraut geworden, indem sie die gleichen Gesellschaften von Künstlern und Scheinkünstlern, die gleichen Atelierfeste, Maskeraden und Trinkhäuser besuchten, manchmal zusammen kochten und sich gegenseitig aushalfen in allerlei Nöten.

      Pielmann hält den Ausdruck vergnügter Überraschung zurück, um erst einmal ruhig zu prüfen, was ein Jahrzehnt aus der übermütigen, begeisterten Malerin, aus dem braven, schwächlichen Mädel entwickelt hat. Jetzt gewahrt er eine gesunde, volle, elegante – – auch die Art, wie sie sich im Sande gelagert hat und achtlos mit dem Ärmel einer Spitzenjacke spielt, verrät Wohlbefinden. Ihr zur Seite ereifert sich ein Knabe damit, ringförmige Aufstufungen aus Sand zu bauen. Außerdem steht dort ein vernickelter Spielwagen, auf welchem ein Buch und ein Butterbrot in bedenklich enger Freundschaft beisammen sind.

      »Pielmann? Piel -mann!«

      »Sascha, hä, hä!«

      »Wahrhaftig, Pielmann. Wie geraten denn Sie hierher? Mein Gott, leben Sie denn überhaupt noch? Ich dachte Sie wären längst gestorben.«

      »Daß ich nicht wüßte.«

      »Famos! Nein, welch ein Zufall! Sie in Rußland! Was tun Sie denn hier? Sind Sie denn noch am Kabarett? Und noch ganz wie früher! O, Sie müssen uns besuchen; ich bin nämlich verheiratet.«

      »Piink! pink!« Pielmann singt zwei hohe Töne und steckt ein unverständliches Lächeln auf, so eine seiner merkwürdigen Angewohnheiten.

      »Hm, ich bin Frau. Mein Mann ist der Baron Rostostowsky. – Ja, ja, das ist unser Junge. – Roby, du hast wieder dein Butterbrot nicht gegessen; jetzt bekommen’s die Vögel, und du kriegst zur Strafe heute kein Nachtbonbon. Steh auf und gib dem Herrn dieHand.« Das verwöhnte Kind schiebt sich trotzig heran und streckt unartig die Hand aus. Der Weißhaarige drückt diese unter einer pompösen Verneigung: »Ah, es fr -fr -freut mich, Baron St -St -St -Stofstoffstoffsky, Euer Hochwohlgeboren beim Wiederaufbau des Kollisseums anzutreffen. D -d -darf ich alte Ruine mich daneben setzen?«

      Frau von X. lacht, eigentlich über Pielmanns Schuhe. Es fällt ihr ein, daß er niemals auf der Bühne stottert. »Nein, wie Sie drollig aussehen. – Haben Sie Kinder gern?«

      »Ich sehe, spreche, erziehe sie gern. – Und Ihnen geht’s also gut?«

      »Nun ja, so, so, man hat viele Sorgen, mit den Dienstboten, und Roby ist unfolgsam, und jetzt wird unsere Wohnung tapeziert. – Und Sie? Sind Sie ein berühmter Mann geworden?«

      »Dann würden Sie wohl nicht fragen. Als wir uns zuletzt sahen, war ich schon ein geschiedener Gatte und beinahe ein halb Jahrhundert alt; von solcher Höhe steigt man nicht mehr. Was macht denn Ihre Malerei?«

      »Die habe ich aufgegeben, aber Sie, etwas müssen Sie doch erreicht haben?«

      »Ja, ja, natürlich, selbstverständlich, zum Beispiel diesen prächtigen Filzhut. – Wohnen Sie am Strand?«

      »Wir haben hier ein Sommerhaus, mein Mann wird sich ungemein freuen, Sie kennen zu lernen. Er fuhr zur Stadt um Billette für – –« und sie berichtet weiteres und fragt dazwischen mancherlei. Ihr alter Bekannter unterbricht sie nur selten, schaut sie auch nicht an, sondern starrt auf Roby, auf den Spielwagen, über das Meer und ins Gewölke. Sie weiß die strengen Falten seiner Miene gar nicht zu deuten und fragt gelegentlich: »Pielmann, trinken Sie eigentlich noch immer?«

      »Ja, Lethe.«

      »Das kenne ich nicht; ist das Schnaps?«

      Er sagt nichts darauf.

      »Haben Sie die arme kleine Tilly einmal wiedergesehen? Wie gefällt Ihnen, vor allem, meine Heimat, der Strand, diese roten Kiefern im Abendglühen, das Meer und alles, was ich Ihnen so oft schilderte; nicht wahr, das ist doch unvergleichlich?«

      Keine Antwort erfolgt.

      »Pielmann? – Pielmann, Sie müssen überhaupt du zu mir sagen.«

      Da wendet er ihr schnell sein Gesicht zu: »Sie ha -ha -ben also nicht vergessen, daß wir mitunter in armseligen Dachstuben recht lustige Kameraden gewesen sind, daß wir manchmal Rettiche als Mittag geteilt haben?«

      »Wie könnte ich das vergessen! Nein, nein, die Staffeleien, die Gitarren, die Lieder – nein, ich behalte das alles, und die Feste, und die Heimgänge am Morgen nach so gleichgültig verbummelten Nächten – – ach, es war doch wunderschön!«

      Nun entsteht eine Pause in dem Zwiegespräch. Bunte Leute promenieren am weich, melodisch bespülten Ufer. Von da, wo die Sonne verschwunden ist, wandeln feurig rote Wolken und Wölkchen in die matte Bläue des Himmels hinaus. –

      »Hugo?« beginnt die Baronin von neuem und ganz leise. »Bemerkst du den goldenen Streifen am Horizonte, ganz unten, ganz fern? Ich denke immer, dahinter müßte noch etwas unausdenkbar Glückseliges sein – etwas, so – verstehst du mich nicht?«

      Er schweigt. Unterhalb, nicht weit von ihnen, knirscht eine Equipage. Auf einmal springt Sascha auf. »Da hält ja die Fürstin; die muß ich begrüßen. Entschuld’ge mich einen Moment.« Sascha klopft eilig den Sand vom Kleid und ordnet dasselbe. »Sieh dir mal den dicken Kutscher mit den Pfauenfedern an – echt russisch! Im Winter ist er noch dicker; da polstert man ihn mit Kissen aus. Das gilt hier für vornehm; so einen haben wir auch, na, verzeihe einen Augenblick, ich bin – –.« Sascha läuft den Abhang hinunter. Sie ist eine hübsche Frau.

      Auch Pielmann erhebt sich. »So, Roby, jetzt wollen wir die Vögel füttern«, krächzt er besonders scharf, aber mehr zu sich selbst als zu dem Jungen, und als dieser unbeirrt weiterschaufelt, nimmt der Alte das Butterbrot vom Spielwagen und schlendert, wie gelangweilt, etwas abseits hinter eine Fischerbude.

      Und dort, ohne nach Vögeln auszuschauen, reißt er mit zwei Fingern ein Bröckchen Brot ab und wirft es auf den Boden. Dann reißt er einen großen Bissen ab und stopft ihn in den Mund und kaut sehr schnell und würgt und lauscht dabei und späht aufgeregt umher und wirft wieder ein Kleines von Brot zur Erde und stopft wieder ein Großes von Brot in den Mund. – –

      Es dauert geraume Zeit, bis die Baronin von der Fürstin an ihren Lagerplatz zurückkehrt. Pielmann ist nicht mehr dort. Sie entdeckt nahebei eine langgestreckte Inschrift mit großen Buchstaben, die er in eine glatte Sandfläche gefurcht hat. Da steht: »Vergessen Sie nicht den goldenen Streifen. Dort wird es keine gepolsterten Kutscher geben, auch keine Rettiche.« –

      Roby spielt mit einem Bauernschnitzwerk und behauptet, die Vögel hätten es ihm beschert.

      Der tätowierte Apion (1912)

      Nachlässig schwenkt sie die Waffen der Reinlichkeit, Besen, Schaufel, Staubtuch. In der Schürzentasche, die wie ein Känguruhbeutel überm Magen klafft, trägt sie die Morgenpost für den gnädigen Herrn, und so betritt sie, feindselig, dessen Arbeitszimmer. Diesen scheußlichen, unangenehmen, ungemütlichen Raum, wo man nicht zwei Walzerschritte versuchen kann, ohne eine Vase, ein Bild oder solch einen dämlichen Gott zu Scherben zu bringen; Götter, die nur aus Gips und Stein bestehen, zum Teil keine Arme oder Beine mehr haben und die der Professor doch mit kindischer Zärtlichkeit verehrt, während er für die Menschen kein freundliches Wort


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