Yoga und die Zukunft der Menschheit. Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter
rasch zu erreichen, die von der gewöhnlichen Bewegungsweise der Natur nur langsam, im säumigen Schritt einer jahrhunderte- oder gar jahrtausendelangen Evolution zuwege gebracht werden.
Es gibt hier einen scheinbaren Unterschied. Das Ziel, das uns im Yoga vorschwebt, ist Gott. Das Ziel der Natur jedoch besteht darin, die Übernatur zu verwirklichen. Doch diese beiden Ziele stehen miteinander in Einklang und entsprechen derselben Absicht. Gott und die Übernatur sind nichts weiter als der wesentliche und der formale Aspekt jener einzigen, unerreichbaren Erfüllung, auf die unsere menschliche Entwicklung in ihrer Aufwärtsbewegung ausgerichtet ist. Yoga ist für den Menschen das Emporarbeiten der von einer langsamen Evolution und weiten Rückfällen befreiten Natur, die sich in göttlichem oder menschlichem Wissen ihrer selbst bewusst wurde.
Gott ist Das, was das Ganze ist und doch weit über das Ganze hinausgeht, es transzendiert. Nichts existiert, was nicht Gott wäre, doch ist Gott weder die Summe des Existierenden noch irgendein Teil dieser Summe, außer als symbolisches Bild für Sein eigenes Bewusstsein. Anders ausgedrückt: Alles getrennt Existierende ist ein besonderes Symbol, die gesamte Summe des Existierenden ist ein allgemeines Symbol, das versucht, die unübersetzbare Existenz – Gott – in die Begriffe des Welt-Bewusstseins zu übersetzen. Es ist zu diesem Versuch bestimmt. Erfolg aber ist ihm nicht bestimmt, denn im selben Augenblick, da es Erfolg hat, hört es auf, es selbst zu sein und wird zu jenem unübersetzbaren Etwas, von dem es seinen Ausgang nahm, d. h. zu Gott. Keinem Symbol ist es bestimmt, Gott vollkommen auszudrücken, nicht einmal dem höchsten. Doch ist es das Vorrecht der höchsten Symbole, ihre gesonderte Bestimmtheit in Ihm zu verlieren, aufzuhören Symbole zu sein und im Bewusstsein zu dem zu werden, was versinnbildlicht ist. Der Mensch ist solch ein Symbol oder Eidolon Gottes. Wir sind, um die biblische Wendung zu gebrauchen, in Seinem Bilde erschaffen. Damit ist nicht ein formales Bild gemeint, sondern das Bild Seines Wesens und Seiner Persönlichkeit. Wir sind vom innersten Wesen Seiner Göttlichkeit und haben Teil am Vermögen Seiner Göttlichkeit. Wir sind nach dem Vorbild eines göttlichen Wesens und eines göttlichen Wissens geformt und tragen seinen Stempel.
In allem, was phänomenal existiert – oder symbolisch, wie ich bei tieferem Eindringen in die Natur der Dinge eher sagen möchte –, gibt es zwei Seiten des Seins: Das Ding-an-sich und das Symbol, Selbst und Natur, res (das Ding, das ist, das Seiende) und factum (das Ding, das getan oder gemacht wurde, Getanes oder Gemachtes), unveränderliches Sein und veränderliches Werden, das Übernatürliche und das Natürliche. Jeder Zustand des Daseins birgt in sich eine Kraft, die ihn dazu treibt, sich selbst zu transzendieren. Die Materie bewegt sich darauf hin, Leben zu werden. Das Leben ringt darum, Mental zu werden. Das Mental strebt sehnsuchtsvoll danach, ideale Wahrheit zu werden. Die Wahrheit strebt dorthin auf, wo sie göttlicher und unendlicher Geist wird. Der Grund dafür ist, dass jedes Symbol ein unvollständiger Ausdruck Gottes ist und sich deshalb seiner eigenen gänzlichen Wirklichkeit entgegenstreckt, sie zu werden sucht. Es drängt darauf, sein wirkliches Selbst zu werden, indem es über sein scheinbares Selbst hinauswächst. Das Gemachte fühlt sich angezogen vom Seienden, das Werden vom Sein, das Natürliche vom Übernatürlichen, das Symbol vom Ding-an-sich, die Natur von Gott.
Die Aufwärtsbewegung ist demnach das Mittel zur Selbsterfüllung in dieser Welt, aber sie ist nicht allen Objekten auferlegt. Denn es gibt dreierlei Zustände, denen alles Veränderliche im Dasein unterworfen ist: das Aufsteigen, den Stillstand und das Abgleiten. Zwar bewegt sich die Natur in ihren niederen Zuständen im Allgemeinen nach oben, doch sucht sie die endgültige Erlösung nur für eine begrenzte Anzahl von Individuen. Nicht jede Form von Materie organisiert sich zu lebender Materie, obgleich jede Form von Materie erfüllt ist vom Geist des Lebens und von seinem heftigen Verlangen nach Befreiung und Selbstbekundung. Nicht jede Form von Leben organisiert sich zu mentalem Leben, obwohl in allen Lebensformen das Mental vorhanden ist und darauf drängt, freizukommen und sich kundzutun. Ebensowenig ist jedes mentale Wesen dazu befähigt, in sich das Leben der idealen Wahrheit herauszubilden, obwohl in jedem mentalen Wesen – im Hund, Affen und Wurm nicht minder als im Menschen – der eingekerkerte Geist der Wahrheit und des Wissens nach Freiheit und Selbstausdruck trachtet. In jedem erreichten Zustand ihres Gefüges bemüht sich die Natur zunächst darum, die natürliche Existenz ihrer Geschöpfe darin abzusichern. Erst nachdem diese vorrangige Aufgabe erfüllt ist, sucht sie durch die bestgeeigneten unter ihnen, ihren eigenen Werken zu entkommen, das von ihr Errichtete niederzureißen und etwas zustandezubringen, was darüber hinausgeht. Aber erst mit dem Menschen gelingt ihr die Entwicklung eines Typus, der in allen seinen Individuen im Prinzip dazu fähig ist, nicht nur das Natürliche, sondern auch das Übernatürliche in sich zu verwirklichen. Allerdings ist auch dies nur bedingt und mit Einschränkungen wahr.
Dennoch bleibt es wahr, dass die Aufwärtsbewegung die Hauptbewegung der Natur ist. Ein gleichbleibender Zustand ist eine geringere Errungenschaft und, falls vollkommen, eine vorübergehende Vollkommenheit. Es ist eine Vollkommenheit im Reich des Kampfes und im Stil vergänglicher Formen, eine Erfüllung im Königreich von Ashanaya Mrityu – Hunger, welcher Tod ist, Hunger, der erschafft und sich von seinen Schöpfungen nährt. Die Aufwärtsbewegung ist jene, die durch den Tod hin zur Unsterblichkeit führt und in dieser Erde des Körpers das selige und leuchtende Himmelreich verwirklicht. Das Abgleiten ist Zerstörung, Hölle, ein großes Unheil, mahati vinastih. Dies sind die drei von der Gita erwähnten gatis oder Endzustände des Werdens, uttama, madhyama und adhama, der höchste, der mittlere und der unterste Zustand, die der Menschheit zur Auswahl dargeboten sind. An jedem Einzelnen von uns liegt es, seine Wahl zu treffen. Denn so wie wir wählen, wird Gott sich in uns entfalten, und zwar in Richtung auf vorübergehende menschliche Befriedigung oder göttliche Vollendung oder Zersetzung unserer menschlichen Natur in die fruchtbaren Abfallprodukte der Natur.
Die ganze Natur ist demnach ein Schritt hin zur Übernatur, d. h. zu etwas, das für sich selbst natürlich ist, aber übernatürlich für alles, was darunter liegt. Das Leben ist übernatürlich für die Materie, das Mental ist übernatürlich für das Leben, das Ideale Sein ist übernatürlich für das Mental, der Unendliche Geist ist übernatürlich für das ideale Sein. Wir müssen daher das Übernatürliche als unser Ziel anerkennen. Die Tendenz unserer Natur zu der unmittelbar über ihr befindlichen Übernatur ist ein Geheiß der Welt-Macht, dem Folge zu leisten und nicht mit Auflehnung oder Misstrauen zu begegnen ist. Hier hat der Glaube seine Wichtigkeit und die Religion, solange sie unverfälscht ist, ihren unschätzbaren Nutzen, denn unser natürliches Mental hat die Tendenz, in seiner Natur zu verharren, und hegt Zweifel an der Übernatur. Glaube und Religion waren Vorkehrungen der Allweisen Energie, die den natürlichen und nur mentalen Menschen an die Eingebungen der idealen Seele in ihm zu gewöhnen hatte, einer Seele, die am liebsten jetzt gleich aus dem Zwielicht in das Licht, aus dem Tappen im Dunkeln in die Wahrheit, aus den Sinnen und dem Verstand in die Schau und die direkte Erfahrung entrinnen möchte. Das Streben nach oben ist uns also auferlegt, und wir können uns ihm auf die Dauer nicht widersetzen. Früher oder später wird Gott sich unserer bemächtigen und uns diesen steilen, für unsere strauchelnden Schritte so schwierigen Hang hinauftreiben. Denn so sicher sich das Tier hin zum Menschen entwickelt und in seinen wandlungsfähigsten Arten so etwas wie einen menschlichen Charakter erlangt hat, und so sicher der Mensch, nachdem Affe und Ameise einmal erschienen waren, unweigerlich zu folgen hatte, ebenso sicher entwickelt sich der Mensch hin zur Gottheit und kommt ihr in seinen fähigeren Typen ständig näher, erlangt er selbst eine Art von Gottheit. Und es ist ebenso gewiss, dass der Mensch, nachdem das Genie und der Heilige einmal erschienen sind, zwangsläufig in sich und aus sich heraus den Übermenschen hervorbringen wird, den siddha purusha. Diese Schlussfolgerung setzt keine prophetische Gabe oder Offenbarung voraus. Sie ist die unvermeidliche Konsequenz aus allen vorausgegangenen Demonstrationen, die für uns in dem gewaltigen Laboratorium der Natur durchgeführt wurden.
Wir haben die Natur zu transzendieren und Über-Natur zu werden. Aus dem oben Gesagten geht jedoch hervor, dass dies geschehen sollte, indem wir etwas ausnutzen, was noch in der Natur eingeschlossen ist, und wir einer Entwicklungslinie folgen, die