Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel
und Gartechniken
Der Mensch verfügt über ein multisensorisches Gehirn, hat ein Gedächtnis und ist lernfähig. Bis auf instinkt- oder reflexhafte Reaktionen63 steuert und kontrolliert dieses Gehirn (vor allem der Neocortex) alle Aktionen, löst Probleme und Herausforderungen, die zu seiner Existenzsicherung notwendig sind. Auch aus lehr-/lerntheoretischer Sicht, mit der wir uns im Kapitel IV näher befassen, stellt sich die Frage, ob eine absichtsvolle Tätigkeit, Rohstoffe u. a. aromatisch zu verändern, kognitiv auf der Ebene des »Problemlösens« liegt oder ob das handwerklich erzeugte Produkt letztlich das Ergebnis einer sensorischen Präferenz ist, die der vegetativen Kontrolle des Mögens oder Meidens unterliegt.
Zunächst ist Geschmack keine Verstandesleistung, sondern u. a. von der molekularen Zusammensetzung der Nahrung abhängig. Auf Empfindungen der Zunge hat der Verstand keinen Einfluss. Ihre Geschmacksrezeptoren sind zwar von Individuum zu Individuum unter-schiedlich dicht gepackt (so werden »Nichtschmecker«, »Normal- und Superschmecker« unterschieden) (HAUER 2005), funktionieren aber ohne geistiges Zutun. Ihre Reizantwort ist unabhängig davon, ob der Molekülmix natürlichen Ursprungs oder per Hand hergestellt ist. Entscheidend für das sensorische Empfinden ist die Konzentration schmeckbarer Anteile. Je mehr »gemochte« und je weniger »störende« Anteile vorkommen, desto attraktiver ist der Bissen. Genau hierauf nimmt die Bearbeitung, das manuelle Verfahren, Einfluss.
Rohstoffe werden u. a. mit dem Ziel bearbeitet und kombiniert, das Aroma zu verbessern. Hierbei steuert der Verstand die manuellen Aktionen. Damit sind die verbesserten sensorischen Werte das Ergebnis eines gewollten Handelns. Aber auch dabei ist unklar, ob das Zusammenstellen und Bearbeiten von Rohstoffen eine intellektuelle Leistung im Sinne des oben genannten »Problemlösens« ist (das u. a. Gedächtnisbildung, assoziatives Lernen und Einsichten zur Voraussetzung hat; ROTH 2011). Tatsächlich ist der verbesserte Geschmack nicht nur die Summe aller Molekülanteile, ein abzählbarer physikalischer Wert, der die Zungenoberfläche reizt und Empfindungen zwischen gut und schlecht erzeugt, sondern Ausdruck des »Körperwillens«, der sich in technischen Fertigkeiten und im guten oder schlechten Geschmack zu 'erkennen' gibt.
Der Verstand begleitet und kontrolliert die Wirkung der Zubereitungsaktivitäten und beurteilt das »Vorher« und »Nachher« mit den Messinstrumenten, die ihm der Organismus dafür zur Verfügung stellt: seinem Sensorium. Ein schmackhaftes Kochprodukt ist daher weniger eine kognitive Leistung des »Problemlösens«, sondern das Ergebnis des Einsichtslernens, dass sensorische Eigenschaften mittels Verfahrensabläufen und Mischungen bestimmter Rohstoffe herstellbar sind.
2.2 Sensorische Qualitäten und Lernfähigkeit
Für das Erkennen von sensorischen Qualitäten im Zusammenhang mit der Bearbeitung und Beurteilung von Verfahrensschritten sind geistige Fähigkeiten des Dazulernens notwendig. In »Wie einzigartig ist der Mensch« beschreibt ROTH 2011 die verschiedenen Ebenen kognitiver Fähigkeiten, die sich im Laufe der Evolution im Tierreich entwickelt haben (s. Hintergr.-Info. unten).
Hintergrundinformationen
Zu den elementaren erfahrungsbedingten Anpassungsfähigkeiten gehören die Habituation und Sensitivierung. Ersteres ist das Nachlassen einer bestimmten Verhaltensweise oder körperlichen Antwort auf einen auffälligen Reiz, wenn dieser keinerlei Folgen (gute oder schlechte) für das Individuum hat. Anders die Sensitivierung. Der Organismus reagiert auf einen zunächst eher unauffälligen Reiz mit einer Steigerung einer physiologischen Reaktion und eines Verhaltens – sowohl auf negative als auch positive Impulse (ROTH 2011).64 Diese Verhaltensänderungen gehen nur auf einen bestimmten Reiz zurück und werden als nicht-assoziatives Lernen bezeichnet. Die verstärkte physiologische Reaktion auf den als besser erkannten Geschmack ist eine Folge der Sensitivierung (z. B. vermehrte Mund- und Bauchspeichelsekretionen). Die Bereitschaft, mit aufwändigen Bearbeitungs- und Verfahrenstechniken diese sensorische Qualität herzustellen, hat hier ihren Grund. Der »Lustgewinn« beim Essen ist ausschließlich eine »Bewertung« durch das Nervensystem. Diese Vorgänge laufen im Organismus (meist) automatisch ab und stellen sich ohne Verstandesleistung von alleine ein (ROTH 2011).65
Guter, respektive schlechter Geschmack sind nicht nur das Produkt sensorischer Informationen der Nase und Zunge, sondern auch an (individuell variable) Hormonspiegel gekoppelt. Die reizauslösenden Merkmale einer Zubereitung bewirken im Organismus die gleichen Effekte wie eine klassische Konditionierung.66 Attraktive Aromen erhöhen u. a. Endorphinausschüttungen, wodurch nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch der »Memory-Effekt« (als Folge spezifischer Genaktivierungen) erhöht wird. Dieses »Körperwissen« steuert jene Aktivitäten, die wir »Zubereitung« nennen.67 Es sind also die Sinneseindrücke und daran gekoppelte hormonelle Effekte, die »handwerkliche Aktivitäten« in die vom Organismus präferierte Richtung steuern und befeuern. Aus Sicht der Motivationsforschung ist das schmackhaftere Essen die Belohnung für den Aufwand.68 Einfache Gartechniken (z. B. Rohstoffe in der Glut oder auf heißen Steinen zu denaturieren) erforderten keinen »analytischen« Verstand und waren vermutlich auch deshalb Praxis der ersten Homo-Generationen (Homo habilis, Homo erectus). Erst mit der Erlangung der o. g. kognitiv »höheren« Ebene des »Lernens durch Einsicht« (das ein bereits erkanntes Prinzip unter ähnlichen Bedingungen – in einem vergleichbaren Kontext – anwendet) (ROTH 2011), konnten auch komplexere Gartechniken entwickelt werden – ähnlich der Fähigkeit, Jagdwaffen mit dünneren Speeren und feineren Pfeilspitzen (s. Hintergr.-Info. unten) zu entwickeln.
Hintergrundinformationen
Die Verbesserung von Werkzeugen und die Entwicklung effizienterer Jagdwaffen verlaufen historisch vermutlich parallel (eher vorlaufend) zur Optimierung von Zubereitungstechniken. Allerdings sind das nicht vergleichbare Leistungsebenen, zu dem das größer werdende Gehirn von H. erectus fähig war. Die Fähigkeit, immer ausgefeiltere Werkzeuge und Waffen herzustellen, basiert auf einem wesentlich komplexeren Erfahrungshintergrund und intellektuellen Anforderungen. An der Feuerstelle müssen weder die Existenz betreffende »Herausforderungen« gelöst werden, noch geht es beim Kochen um eine unmittelbare Gefahrenabwehr – gar um Leben und Tod – wie es bei der Jagd der Fall sein kann. Würde die Entwicklung von Gartechniken von der intellektuellen Ebene des Problemlösens, dem gedanklichen Verfolgen und Einschätzen geplanter Handlungen abhängen, dann hätten sie auch von den Schimpansen erfunden werden können – auch sie verfügen über diese kognitiven Fähigkeiten (ROTH 2011).
2.3 Zur »Abkehr« vom natürlichen Nahrungsvorrat
Wie bereits erwähnt, stützen mehrere archäologischer Befunde die Annahme, dass Homo erectus (möglicherweise auch schon Homo habilis)69 Fleisch geröstet hat.70,71 Dieses Tun ist im Grunde erstaunlich, denn die bisher unbeantwortete Frage, weshalb unsere frühen Vorfahren geröstete, denaturierte Nahrung präferiert haben sollten – wenn all ihre Verdauungssysteme seit Jahrmillionen an rohe Nahrung optimal angepasst waren – bleibt. Merkwürdigerweise scheinen die Gründe und Auslöser dieses Ernährungswandels kein wissenschaftliches Interesse zu wecken.
Jedes Lebewesen, ob Amöbe, Blattschneiderameise, Biene, Bartenwal oder Adler, frisst nur die Nahrung, an die es jeweils angepasst ist und die sein Überleben sichert. Primaten suchen, erkennen und wählen ihre Nahrung anhand sensorischer Merkmale (u. a. mittels Augen, Nase, Zunge und Kauwiderstand). Zusätzlich wird ihre Nahrung von den Organsystemen 'überwacht', die an der Verdauung beteiligt sind (Darm-, Leberrezeptoren u. a. m.). Diese liefern während und nach der Mahlzeit ihre »Messwerte« an das Gehirn, sodass Abweichungen von der »erwarteten« Qualität rasch erkannt werden. Damit hat die Evolution ein mehrfach ineinandergreifendes Kontrollsystem für die Nahrungswahl geschaffen (ein 'äußeres' und 'inneres'), das uns u. a. vor Giften und Mangelernährung schützt.
Wie erklärt sich, dass ein derart abgesichertes Schutzsystem vorbehaltlos denaturierte und geröstete Rohstoffe nicht nur akzeptiert, sondern sogar präferiert? Lebewesen, die ihre Nahrung vor allem nach »Geschmackswerten«