Das Schweigen der Kühe. Christian Macharski
zu legen. Sie freute sich. Mit so viel Andrang hatten sie gar nicht gerechnet und jetzt wurden die Vorräte in der Küche knapp. Ein Kellner war sogar schon losgeschickt worden, neues Fassbier zu holen.
Ein Quietschen riss sie aus ihren Gedanken. Es waren wohl die Scharniere der schweren Eisentür, die in den Keller führte. Für einen kurzen Augenblick wehten die fernen Klänge des von der Kapelle gespielten Königswalzers hinab in den feuchten Keller. Ein Lichtstrahl huschte durch den Raum. Die Tür quietschte noch einmal kurz, dann herrschten wieder Stille und dämmrige Dunkelheit. Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss. Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Endlose Sekunden später begann sie langsam wieder, den Korb mit Kartoffeln zu füllen. Plötzlich ein neues Ge räusch. Schwere Schritte stapften ohne Hast die knarrende Holztreppe hinab. Ihr Kopf fuhr herum und ein kalter Schauer legte sich über ihren Rücken. Ihr Herz jagte, als sie sich zögernd erhob und sich zum Treppenabsatz umdrehte. Ihre zusammengekniffenen Augen konnten im trüben Gegenlicht kaum etwas sehen. Mit einem Mal trat eine riesige Gestalt in den kargen Raum. Die hünenhafte Erscheinung hob sich silhouettenhaft von der Steinwand ab. Doch so sehr sie sich mühte, sie konnte kein Gesicht erkennen.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte sie ängstlich und erst jetzt spürte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.
„Guten Tag, schöne Frau“, brummte eine ihr sehr vertraute, männliche Stimme. Für einen kurzen Moment entspannten sich ihre Muskeln. Doch im nächsten Augenblick nahm der Tonfall einen frostigen und ungnädigen Klang an und ließ sie erschaudern.
„So alleine im Keller?“
Als sie unsicher antworten wollte, packte der Mann sie grob an beiden Armen und riss sie ruckartig an sich. Noch bevor sie schreien konnte, presste sich eine raue, massige Pranke wie ein Schraubstock auf ihren Mund. Über ihre vor Schreck aufgerissenen Augen legte sich ein dunkler Schatten.
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Montag, 5. Mai, 17.05 Uhr
Es machte ein kurzes, schmatzendes Geräusch: „Swosch“. Dann war alles vorbei. Doktor Mauritz zog sich den Gummihandschuh, der ihm bis zur Schulter reichte, langsam aus. Er runzelte die Stirn. Seine Miene drückte eine gewisse Besorgnis aus.
Wilhelm Hastenrath stand ungeduldig mit verschränkten Armen vor ihm: „Und Doktor? Was ist es?“
Doktor Mauritz rollte den verschmierten Handschuh sorgfältig zusammen und warf ihn in eine Tüte, die er bereitge stellt hatte. „Ich befürchte, wir haben es hier mit einer akuten Mastitis zu tun.“
Auch Wilhelm Hastenrath legte nun die Stirn in Falten. „Ich habe es befürchtet. Ich hatte auch mal Probleme mit so was. Da muss ich auf dem Pfarrfest wohl eine Wurst gegessen haben, die nicht mehr gut war. Jedenfalls hatte ich Magenkrämpfe, das können Sie sich gar nicht vorstellen.“
Doktor Mauritz war nur kurz irritiert. Dann lächelte er. „Mastitis, Herr Hastenrath. Nicht Gastritis. Eine Mastitis ist eine Euterentzündung. Ich habe jetzt alle Kühe untersucht. Und bei den zweien hier vorne müssen wir wohl von einer schweren Euterentzündung ausgehen. Daher auch die ge röteten Stellen und die Schwellungen.“
„Und deshalb auch immer das Gebrüll die ganze Nacht?“
„Ich denke ja, Herr Hastenrath. Normalerweise brüllen Kühe zwar nur, wenn sie hungrig sind oder „stierig“, wie Sie zu sagen pflegen, aber in diesem Fall scheint mir die Entzündung doch sehr schmerzhaft zu sein. Ich werde gleich mal etwas Penicillin in die Euter spritzen und Ihnen eine anti biotische Salbe verschreiben, die Sie bitte dreimal täglich großflächig auftragen.“ Der fragende Blick des Landwirts veranlasste den Veterinär, noch einen Satz anzufügen: „Also nicht Sie ... sondern die Kuh ... Also, ich meine, Sie ... bei der Kuh.“
Hastenraths Will, wie er eigentlich von allen genannt wurde, nickte verständig. Der stattliche Endfünfziger mit der sonnen gegerbten Haut und dem etwas aus der Mode gekommenen Brillenmodell war ein erfolgreicher Landwirt. Wenngleich manchmal etwas großmäulig und unbeherrscht, war er insgesamt ein herzensguter Mensch, der mit einer gewissen Bauernschläue gesegnet war. Anders wäre es auch gar nicht möglich, in derart schweren Zeiten einen Hof wie den seinen einigermaßen profitabel zu bewirtschaften. Bereits in vierter Generation unterhielt Will ein sehr großes Gehöft mit vielen ungenehmigten Stallungen, Schuppen und Lagern. Als einer der letzten Landwirte in der Region betrieb er noch Viehwirtschaft. Er nannte 20 Milchkühe, 30 Schweine und knapp 100 Hühner sein Eigen. Außerdem beackerte er etwa 25 Hektar, also gut 100 Morgen, geerbten Lands, zumeist mit Zuckerrüben und Kartoffeln. Dr. Mauritz begann seine Utensilien zusammenzuräumen, die verstreut auf dem Boden lagen. Will zog seinen abgewetzten Bundeswehrparka aus, legte ihn über den Rücken einer Kuh und beugte sich ächzend hinunter zum Tierarzt, um ihm beim Packen zu helfen.
„Wissen Sie, Herr Doktor. Die Adelheid ist meine beste Milchkuh. Es ist ja alles gar nicht mehr so leicht heutzutage. Ich sag immer: Das Leben ist wie eine Hühnerleiter – kurz und beschissen. Die ganzen Verbrecher bei der EU ...“
Dr. Mauritz schnitt ihm das Wort ab, da er ahnte, welche Richtung das Gespräch einschlagen würde: „Herr Hastenrath, ich sehe gerade, ich habe von der Salbe noch eine Probe packung. Die kann ich Ihnen dalassen. Dann brauchen Sie keine zu kaufen.“
Will strahlte. Als er sich, gemeinsam mit Dr. Mauritz, wieder erhob, quietschten seine grünen Gummistiefel. Gut gelaunt spannte er mit den Daumen seine ausgefransten, grauen Hosenträger, die notdürftig seine übergroße, abgetragene graue Stoffhose hielten, und ließ sie dann ausgelassen gegen sein grün-weiß kariertes Hemd zurückschnellen. Eine Mode kombi nation übrigens, auf die er seit Jahren schwor.
„Das ist aber nett, Herr Doktor. Wenn ich Sie auch mal ein Gefallen tun kann, sagen Sie Bescheid. Dann nehme ich mir die Zeit.“
„Gerne.“ Der Doktor nickte gütig und sah demonstrativ auf seine Uhr. „Apropos Zeit. Ich muss weiter. Ich habe heute noch eine Trichinenschau in Tripsrath.“
Will nahm den Parka von der Kuh und zog ihn sich umständ lich wieder an. Während er seine grüne Schirmmütze zurechtrückte, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Aber ein Kaffee trinken Sie noch mit, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, brüllte Will quer durch den Stall: „Marlene!“
Dr. Mauritz versuchte gar nicht erst, die rhetorische Frage zu verneinen: „Sehr gerne, Herr Hastenrath. Ich geh mir nur noch eben die Hände waschen.“
Während der Mediziner sich im Nebenraum die Hände schrubbte, musste er lächeln über Will, den komischen Kauz, der nahezu perfekt in dieses Dorf passte. Nicht ohne Grund war der Landwirt auch der Ortsvorsteher des kleinen Dorfes Saffelen, das weit hinten in der rheinischen Provinz lag. Die 800-Seelen-Gemeinde war Teil der täglichen Route von Doktor Mauritz, dessen Praxis sich in der gut 25 Kilometer entfernten Kreisstadt befand. Doktor Mauritz liebte seinen Beruf als Landtierarzt und er mochte auch diesen ganz eigenen Menschenschlag, mit dem er es hier tagtäglich zu tun hatte.
Erneut schallte Wills Stimme scheppernd durch den ge kachelten Waschraum: „Jetzt kommen Sie schon, Herr Doktor. Marlene ist gerade ein leckerer Filterkaffee am machen.“
Doktor Mauritz mochte auch diese eigenwillige Grammatik, wenngleich er es sich nicht zutraute, sie jemals fehlerfrei zu beherrschen.
2
Montag, 5. Mai, 17.10 Uhr
„Riiiita. Riiiiita.“ Borowkas verärgerte Stimme jagte durch die gut geschnittene 65-Quadratmeter-Wohnung. „Wo sind meine Stutzen?“ Richard Borowka war in Eile. Er musste dringend zum Training. Mit seinem Fußballverein SV Grün-Gelb Saffelen II befand er sich kurz vor Saisonende im toben den Abstiegskampf und da konnte er sich keinen Trainingsrückstand erlauben. Wobei das mit dem Abstiegskampf nicht ganz richtig war, denn der SV Saffelen spielte in der Kreisliga C, aus der man ohnehin nicht mehr absteigen konnte. Richard Borowka war mit seinen 34 Jahren der Star der Saffelener Mannschaft. Die C-Jugendlichen des Vereins schauten zu ihm auf. Borowka galt als einer der kompromisslosesten Vorstopper im Umkreis