New Hope City. Severin Beyer

New Hope City - Severin Beyer


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gemacht?«

      »Ich habe die Türe der Nachbarkabine aufgebrochen.«

      »Und dann?«

      »Wenn Sie wissen wollen, was für ein Anblick sich mir bot, so stellen Sie sich einen Metalltentakel vor, groß wie eine Python, an dessen vorderem Ende eine brutale Klaue prangte. Diese Monstrosität hatte sich um eine Person gewickelt, die sich verzweifelt wand, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben. Die Klaue umschloss den Kopf des Opfers. Dabei machte sie ein verstörendes Sauggeräusch, während der Tentakel den unkontrolliert zuckenden Körper weiter auf den Boden drückte. Sie können sich meine Überraschung sicher vorstellen, einen solchen Anblick erlebt man schließlich nicht alle Tage.«

      ›Ziemlich freundliches Lächeln, dafür, dass er eine solche Szene erlebt hat‹, schoss es Steiner durch den Kopf.

      »Nachdem ich nun die Türe eingetreten hatte, ließ der Tentakel von seinem Opfer ab und richtetet sich auf. Er fixierte mich. Ich kann nicht sagen, wozu er dies getan hat, aber es wirkte so, als ob mich dieses Ding mustern würde. Der mechanisch-metallische Körper des Tentakels pulsierte, fast als ob er lebendig wäre. So etwas habe ich noch nie gesehen.

      Wie dem auch sei, wir standen uns einen Augenblick gegenüber, beide scheinbar unschlüssig. Plötzlich, vollkommen unvermittelt, sprang das Tentakelwesen in die Toilettenschüssel und verschwand durch den Abfluss. Als nächstes wählte ich die Nummer des Notrufs.«

      »Hatten Sie denn keine Angst?«

      »Sie haben doch meinen Körper gescannt, oder? Geben Sie zu: Selbst Sie hätten keine Lust, es mit mir aufzunehmen, wenn wir uns ohne trennende Scheibe begegnen würden. Dabei tragen Sie Ihre dienstliche Handfeuerwaffe bei sich und haben zusätzlich eine Kampfausbildung durchlaufen.«

      Herausfordernd blickten die eisigen Augen des künstlichen Menschen Kommissar Steiner an. Ihm kam dieser Blick irgendwie bekannt vor, doch gelang es dem Kommissar nicht, die Assoziation einzuordnen, die das kalte Augenpaar in ihm hervorrief. Als ob dieser Rivera ihn als ein Stück Beute betrachtete. Steiner war sich ziemlich sicher, dass die Geschichte ausgedacht und erlogen war – der wahre Täter saß vor ihm.

      »Ich wüsste nicht, was eine solche Konfrontation bringen sollte«, entgegnete der Kommissar trocken.

      »Wer hat denn von einer Konfrontation gesprochen? Fühlen Sie sich etwa von mir herausgefordert? Oder gar bedroht? Entschuldigen Sie, falls ich diese Wirkung auf Sie haben sollte, das wollte ich nicht. Nein, wirklich nicht. Ich habe nur einen äußerst effektiven Körper, der Grund genug ist, sich sicher zu fühlen. Ich hatte einfach keine Angst, die Kabinentüre zu öffnen, genauso wenig wie ich Angst vor dem hatte, was ich dahinter gesehen habe.«

      Steiner durchschaute diesen selbstgefälligen Schwall, der ihn nur provozieren sollte. Der Kommissar musste wohl konfrontativer vorgehen, um die Wahrheit zu erfahren. Nur für alle Fälle – und um sich zu beruhigen – lockerte er unauffällig den Halfter seiner Dienstwaffe, eher er fortfuhr:

      »Nur das ich das richtig verstehe: Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass dieses Ding das Opfer getötet hat? Woher soll ich wissen, dass nicht Sie es waren?«

      »Was wäre mein Motiv? Außerdem würde es an ein Wunder grenzen, wenn der Mord keine DNA-Spuren an mir hinterlassen hätte. Ihre kleinen Drohnen-Helferlein haben meinen Anzug bereits abgesucht. Er ist schneeweiß wie die Unschuld selbst.«

      »Ihr Anzug besteht aus Nanofasern, die verhindern, dass sich Schmutzpartikel jeglicher Größe darin einlagern. Das wissen wir bereits aus unseren Analysen. Außerdem könnte Ihr Körper so modifiziert sein, dass Sie nicht einmal Fingerabdrücke hinterlassen.«

      »Touché! Das wäre natürlich möglich. In diesem Fall dürfte es aber so oder so schwierig sein, mir die Täterschaft an diesem Mord zweifelsfrei nachzuweisen«, erklärte der makellos geformte Verdächtige.

      Dieser Rivera war mit allen Wassern gewaschen, Grund genug, dass er Steiner suspekt blieb. Er fixierte den Zeugen und scannte ihn ein weiteres Mal, jedoch sehr viel gründlicher als zuvor.

      »Sie scannen mich schon wieder, nicht? Warum tun Sie das? Hoffen Sie, dass Ihnen das die Antworten auf Ihre Fragen verschafft? Ich glaube, Sie mögen mich nicht. Nicht, dass ich Ihnen deshalb einen Vorwurf machen würde, ich weiß ja selbst, dass ich nicht sonderlich glaubwürdig wirke. Die meisten Menschen wären von dem Anblick, den ich Ihnen geschildert habe, zutiefst verstört. Ich bin es aber nicht. Das ist verdächtig, klar. Aber es gibt meinerseits kein Motiv, es sei denn, Sie unterstellen mir pure Mordlust. Dann müssten Sie natürlich auch erklären, warum ausgerechnet ich die Polizei gerufen habe. Warum hätte ich dies tun sollen, wenn ich der Täter wäre?«

      Abgebrüht. Einfach nur abgebrüht. Diese vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod eines anderen Menschen ließ auf eine ausgeprägte psychopathische Persönlichkeit schließen, was heutzutage nur noch ausgesprochen selten war. Aber das brachte Steiner nicht weiter. Weder konnte ein Psychopath etwas dafür, psychopathisch zu sein, noch war es kriminell, zumindest solange er niemanden in öffentlichen Toiletten massakrierte. Steiner brach den Körperscann ab, das brachte ihn nicht weiter.

      »Dürfte ich nun gehen oder haben Sie noch weitere Fragen an mich? Ihre Kollegin hat meine Kontaktdaten bereits aufgenommen, Sie können mich daher bei Bedarf jederzeit kontaktieren. Zu humanen Zeiten, versteht sich.«

      Nein, er konnte ihn nicht gehen lassen. Auch wenn die Beweislage dünn war, war Rivera die beste Spur, auf die sie bisher in dieser Mordserie gestoßen waren. Vielleicht war er der mordende Pharao, den sie so dringend suchten. Natürlich würden gutbezahlte Anwälte noch heute den Verdächtigen gegen Kaution freibekommen. Aber wenigstens konnten Steiner und seine Kollegen ihn so im Auge behalten. Argus, das städtische System zur Videoüberwachung des öffentlichen Raums, dürfte es diesem Verdächtigen in Zukunft so gut wie unmöglich machen, sich unbemerkt in New Hope zu bewegen. Zumindest in den kontrollierten Bezirken, doch das war eine andere Geschichte.

      Aber was, wenn er ihn zu Unrecht verhaftete? Dann hatte er einigen Ärger am Hals. Inzwischen wurden sogar Richter für Fehlurteile juristisch zur Rechenschaft gezogen. Und als einfacher Polizist war man ohne gute Rechtsschutzversicherung ohnehin aufgeschmissen.

      Als Rivera in Handschellen abgeführt wurde, fiel Steiner ein, woran ihn dessen Blick erinnert hatte: An das tiefschwarze Auge eines weißen Haies, eines Killers der Meere. Bisher hatte er so etwas jedoch nur im Explorer Stream in einer Folge über ausgestorbene Arten gesehen.

      Später, die künstliche Beleuchtung von New Hope war schon gedimmt, fuhr Süleyman Steiner nach einem anstrengenden Arbeitstag durch die heruntergekommenen Straßen eines der äußeren Bezirke der dritten Unterebene. Diese Ebene war so verratzt, dass die Einwohner sie nur noch den Bottom nannten. In vielen Vierteln funktionierte nicht einmal mehr der Hologramm-Himmel, der den Bewohnern der unteren Ebenen vorgaukeln sollte, im Freien zu leben. Das Problem der fehlenden Tag-Nacht-Beleuchtung hatten die Einwohner des Bottoms pragmatisch dadurch gelöst, indem sie die Hologramme der Reklameschilder bei Nacht dimmten, die die Straßen säumten. Die Gegend des Bottoms, die der Kommissar mit seinem E-Motorrad durchquerte, glich bei Nacht einem Gewirr von Katakomben, die in schummriges Licht getaucht waren.

      Die ursprüngliche Bepflanzung, die die Arkologie für ihre unterirdischen Bewohner einst freundlicher gestaltete, war hier längst eingegangen. Der Asphalt der Straße hatte sich schon vor Jahren zurückgeholt, was ihm gehörte. Die Hologramm-Reklametafeln – ein vergeblicher Versuch, die kärglichen und verhärmten Häuserfronten zu verbergen – zeigten Steiner den Weg zum Ming. Wahrscheinlich wurden sie mit illegal abgezweigtem Strom betrieben. Die Polizei unternahm jedoch nichts dagegen, denn für die Orientierung waren die leuchtenden Schilder unverzichtbar. Denn auch die ursprüngliche Straßenbeleuchtung funktionierte schon seit langem nicht mehr.

      Im Gegensatz zu den restlichen Bewohnern der Arkologie war Steiner nicht auf die öffentliche Metropolbahn, das Fahrrad oder die eigenen Füße angewiesen. Denn als Polizeibeamter stand ihm ein Dienstfahrzeug auch für den privaten Gebrauch zur Verfügung. Motorisierte Fahrzeuge waren mit wenigen Ausnahmen nur für Notfalldienste wie Polizei, Erste-Hilfe-Dienste oder Feuerwehr zugelassen.


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