Die vermauerte Frau. Henner Kotte
alt=""/> „Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig: aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.“ Die Geschichte von Sali und Vreni, von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, spielt „an dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht“. Tatsächlich aber hatte sie sich am 16. August 1847 in Sellerhausen bei Leipzig zugetragen. Eine kurze Meldung in der Züricher Freitagszeitung vom 3. September hatte Gottfried Keller inspiriert: „Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.“ Noch immer bewegt diese Geschichte, und „wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei“.
Die Existenz des Dörfchens Sellerhausens reicht ins 9. Jahrhundert zurück. Deutsche Bauern besiedelten im 12. Jahrhundert die fruchtbaren Auen der Rietzschke. 1525 wurde das Dorf an den Rat der Stadt Leipzig verkauft. Im Dreißigjährigen Kriege brannte es nieder. Die Apelsteine No. 41 und No. 48 erinnern an die Völkerschlacht. 1814 lebten in 18 Häusern 180 Einwohner. 1830 wurde auf dem heutigen Kirchplatz der Friedhof geweiht.
„Allgemeines Entsetzen erregte in und außerhalb unserer Gemeinden das schreckliche Ende des Gustav Heinrich Wilhelm und der Johanne Auguste Abicht, welche am 16. August auf Sellerhäuser Flur erschossen gefunden wurden“, berichtet das Leipziger Tageblatt am 15. September nach den bei dem „Königl. Kreisamte darüber ergangenen Acten mitgetheilt“ von Pastor M. Volbeding. „Gustav Heinrich Wilhelm, 18 Jahre alt, war ein nachgelassener Sohn des Schmiedemeisters Carl Gottlieb Wilhelm in Großböhla, dessen Mutter jetzt in Zävertitz lebt. Johanne Auguste Abicht, Tochter des Brodbäckers Heinrich Christian Abicht in den Straßenhäusern bei Volkmarsdorf, wurde geb. in Volkmarsdorf den 25. Febr. 1831. Zwischen Beiden fand seit längerer Zeit ein Liebesverhältniß Statt und obwohl Wilhelm von seinen Anverwandten gewarnt wurde, das Verhältniß aufzugeben, da er durch dasselbe zu einem Aufwande veranlaßt werde, welcher seinen Verdienst übersteige, so erneuerte sich dasselbe doch wieder. Am Sonnabend den 14. August wohnten Beide einem Tanzvergnügen im Odeon in Leipzig bei, und kehrten von demselben erst Sonntag den 15. früh um 7 Uhr zurück. Diesen Sonntag sollten sowohl Wilhelm als auch die Abicht zu Hause zubringen, von seinen Anverwandten war es wenigstens Wilhelm ausdrücklich untersagt, auszugehen. Nichts desto weniger nahmen Beide am Sonntag Abend an dem Tanze auf den drei Mohren, in Anger, Antheil. Das Mädchen in ihrer gewöhnlichen Hauskleidung. Bis nach 1 Uhr früh, Montag den 16., sollen sie in dem Saale anwesend gewesen sein.
Am Morgen des 16. August, Montag, sah die Ehefrau des Hausbesitzers Schmidt aus Sellerhausen, welche auf einem Stück Pachtfelde beschäftigt war, in einiger Entfernung Beide liegen, ohne sich indeß näher um sie zu bekümmern, da sie der Meinung war, es seien zwei schlafende Personen. Der Erste, welcher die Entseelten, ungefähr halb 10 Uhr Vormittags, fand, war der Gutsbesitzer Herr Axmann aus Sellerhausen. Dieser gewahrte neben den Leichnamen ein Pistol, einige Pappkästchen – in einem derselben war ein Haarband befindlich – und eine kleine Düte mit Schießpulver. Durch Herrn Axmann wurde der Gutsbesitzer und Gerichtsschöppe, Herr Fichtner, sogleich in Kenntniß von dem Geschehnen gesetzt und während durch denselben die Anzeige bei dem Königl. Kreisamt – welches die Obergerichte ausübt – erfolgte, war der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze als Wache zu den Leichnamen gestellt.
Die Leichname lagen in Sellerhäuser Flur an dem Fußwege, welcher von Anger nach Sellerhausen durch die Kohlgärten führt und zwar zur linken Seite dieses Weges, in der Richtung von Anger her. Dort lagen die beiden Körper dicht neben einander auf dem Erdboden lang ausgestreckt; sie lagen auf dem Rücken, das Mädchen zur rechten Seite, mit der Kopfseite zunächst an einigen Büschen. Der Nachtwächter Härtig aus Sellerhausen fand, ungefähr 15 Schritte von den Leichnamen entfernt, ein zweites Pistol auf und näher nach den Leichnamen lag der dazu gehörige Ladestock, so verbogen, daß er in dieser Krümmung zum Laden nicht mehr als tauglich betrachtet werden konnte. Da der Andrang von Menschen eine genauere Erörterung der Sache und Untersuchung der Leichen an Ort und Stelle unmöglich machte, so begab man sich nach Sellerhausen und die Leichname wurden daselbst im Spritzenhause niedergelegt.
Der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze gab an, daß er vergangene Nacht, ungefähr um 2 Uhr, drei Schüsse habe fallen hören, die beiden ersten in schneller Aufeinanderfolge, den dritten ungefähr 10 Minuten später; da indeß von den Flurwachen öfters geschossen würde, sei ihm dies nicht auffällig gewesen.
Die nähere Besichtigung und Untersuchung der Leichname ergab nun vor Allem das augenblicklich Tödtliche der Verwundungen, denn bei Wilhelm war der Kopf völlig zerstört; bei dem Mädchen dagegen war die linke Seite des Gesichts aufgerissen, die Kinnlade und die hintern Halsknochen zerschmettert und gänzlich zerstört, während der obere Theil des Kopfes ohne Verletzung war. In dem Gesichte war keine Spur von Pulverbrand zu sehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Mädchen von Wilhelm erschossen und dann entleibte er sich selbst. Seine Hände waren voll Blutflecken und von Pulver geschwärzt. Nach dem, was vorlag, so weit menschliches Urtheil reicht, war Wilhelm Mörder und Selbstmörder zugleich; sein Leichnam wurde an die Anatomie zu Leipzig abgegeben, während den Angehörigen der Abicht überlassen blieb, dieselbe, jedoch nur in der Stille, zu beerdigen.
Die Pistolen, deren sich Wilhelm zu dem Verbrechen bediente, waren zwei schwere Cavalleriepistolen; in der einen derselben, welche von Hrn. Axmann aufgefunden worden war, befand sich noch die Ladung und zwar so übermäßig stark, daß die Hälfte des Laufes vollgepfropft war; wenn daher die andere, mit welcher Wilhelm die That vollführte, eine gleich starke Ladung enthalten hatte, so läßt sich die entsetzliche Wirkung erklären und ebenfalls ist es augenscheinlich, daß das Pistol, nach dem Abfeuern, bis auf die angegebene Entfernung zurückgeschleudert werden mußte.
Ueber die Ursachen des Mordes und Selbstmordes sind die verschiedensten, oft widersprechendsten Gerüchte im Umlauf; ebenso beschäftigt man sich eifrig damit, ob das Mädchen von dem Vorhaben unterrichtet gewesen und sie, mit ihrer eigenen Zustimmung, sich den Tod geben ließ, oder nicht. Alles dies sind immer nur Vermuthungen und können zu Nichts führen. So viel steht fest, daß zwischen den beiden jugendlichen Verirrten ein Verhältniß stattfand, wie es in ihren Jahren nicht stattfinden sollte und daß das Schaudererregende der That noch gesteigert wird durch die im Tanz durchschwärmten Nächte.“
Das Phänomen des Doppelsuizids ist nicht selten. Die juristische Bewertung pendelt. So brachte Heinrich von Kleist am 21. November 1811 am kleinen Wannsee bei Berlin auf deren Wunsch erst Henriette Vogel und dann sich selbst ums Leben. Da Kleist seine todeswillige, an Gebärmutterkrebs erkrankte geistige Freundin tötete, würde es strafjuristisch nicht als Doppelselbstmord gewertet: Es wäre eine Tötung auf Verlangen der Henriette Vogel und ein Selbstmord Kleists.
Der Gymnasiast Rudolf Dietzen kam 1909 nach Leipzig, da sein Vater ans Reichsgericht versetzt worden war. Rudolf galt als Außenseiter. Er schrieb einem verehrten Mädchen Liebesbriefe und denunzierte sich bei deren Mutter mit anonymen Schreiben selbst. Dietzens Vater nahm den Sohn von der Schule und versetzte ihn ins Internat nach Rudolstadt. Dort verabredete Rudolf mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker den gemeinsamen Freitod. Die Freunde tarnten das Vorhaben als Duell. Von Necker starb. Dietzen überlebte schwer verletzt, wurde strafrechtlich belangt und psychiatrisch behandelt. Wenn das Vorhaben der beiden wie geplant in die Tat umgesetzt worden wäre, wäre auch das kein Doppelsuizid, sondern als eine wechselseitig begangene Tötung auf Verlangen zu werten gewesen. Für seine schriftstellerische Laufbahn benannte sich Rudolf Dietzen nach grimmschen Märchen Hans Fallada. Sein erster veröffentlichter Roman „Der junge Goedeschal“ schildert die Affäre und zitiert die Liebesbriefe.
„Ohhh Einsamkeit! / Sieh, oh, das Feuermal meines Leids!“, schreit der „Ringende“ in Johannes R. Bechers Kleist-Hymne. Auch