Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat

Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat


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fünf Millionen Besucher aus aller Welt jährlich ihren Weg nach Pattaya und mit ihnen Milliarden an Dollar, die sie hier großzügig ausgaben.

      Auf der Suche nach Erholung oder dem schnellen Sex ließen sie sich nicht einmal von Tsunamis oder sozialen Unruhen abschrecken.

      Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte die Bucht nur aus einer Handvoll Dörfer bestanden. Der Vietnamkrieg führte jedoch dazu, dass GIs, die in der Nähe stationiert waren, die sauberen Strände und das kristallklare Wasser für sich entdeckten. Die erstklassigen Bedingungen, die sie vorfanden, sprachen sich schnell herum. Und so folgten den Soldaten bald Touristen. Kleine Hotels und Pensionen, aus denen später die Ableger der großen Hotelketten hervorgingen, schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Einwohnerzahlen verdoppelten sich in der Folge nahezu jährlich und lagen mittlerweile bei mehr als einhunderttausend Menschen. Vor allem junge Leute zog es mit der Aussicht auf ein neues und besseres Leben vom Land in die schillernde Welt der Großstadt, einer Hoffnung folgend, die aber nur in den seltensten Fällen erfüllt wurde. Die meisten von ihnen landeten in einer Welt von brutaler Gewalt und schmutzigem Sex, die oft nur durch den Missbrauch aller erdenklichen Arten von Drogen zu ertragen war. Wahre Liebe, kindliche Unschuld oder einfach nur Seelenheil suchte man in Pattaya vergeblich.

      Torben starrte gedankenverloren in das halbvolle Bierglas, das vor ihm stand, und blickte nur kurz auf, um ein zierliches, leichtbekleidetes und stark geschminktes Thaimädchen, das ihm auf Englisch ein ziemlich eindeutiges Angebot gemacht hatte, mit einem Kopfschütteln und einer abwehrenden Handbewegung wegzuschicken. Unschlüssig, ob sie sofort aufgeben sollte, spähte sie an ihm vorbei zu einem schmierigen Typen mit rosafarbenem Hawaiihemd und Sonnenbrille, der im Halbdunkel im hinteren Bereich der Bar wartete. Offenbar gab er ihr ein Zeichen, dass sie keine weiteren Mühen in diese armselige Gestalt investieren sollte, denn sie schenkte Torben nur noch ein mitleidiges Lächeln und versuchte ihr Glück danach bei zwei übergewichtigen dänischen oder holländischen Touristen einige Stühle weiter. Die wiederum konnten es offensichtlich kaum fassen, von einer hübschen, jungen Frau angesprochen zu werden, und so schien es für die Kleine oder besser ihren Zuhälter doch noch ein erfolgreicher Abend zu werden.

      Als Torben sah, wie die Hände eines der beiden Freier gleich hier in der Bar begannen, gierig ihren zarten, kindlichen Körper zu erkunden, wandte er sich angewidert ab und stürzte den Rest seines Singha-Biers hinunter. Es gab Dinge, die konnte er nicht ändern, ob er es nun wollte oder nicht, eine Einsicht, die er schmerzhaft gewonnen hatte.

      Kaum mit seinem Bier fertig, orderte er das nächste bei der pummligen Barfrau, einer Endvierzigerin mit zu viel Make-up im Gesicht und dem deutlichen Ansatz eines Damenbarts. Als er sie so ansah, versuchte er sich zu erinnern, ob er vorher schon einmal hier gewesen war, schließlich trieb er sich bereits seit einer Woche in Pattayas Spelunken herum. Aber die Tage und die Erlebnisse zerflossen in seinem Kopf zu einer großen gallertartigen Masse. Einzelne Erinnerungen darin wiederzufinden war derzeit schier aussichtslos. Er trieb wie ein manövrierunfähiges Schiff ziellos umher und es scherte ihn nicht einmal.

      Dass er sich jetzt in Thailand und nicht irgendwo anders auf der Welt befand, war purer Zufall. Eine Laune des Schicksals hatte dafür gesorgt, dass sein Flieger aus Vietnam kurz nach Erreichen der offiziellen Flughöhe wegen eines technischen Defektes der Klimaanlage zwischenlanden musste.

      Der Zwangsstopp und eine spontane Eingebung sorgten für seinen Entschluss, das Flugzeug zu verlassen und noch etwas Zeit in Thailand zu verbringen. Es zog ihn ohnehin nichts nach Hause. Die vierwöchige Reise als Rucksacktourist durch Vietnam, die nur ein weiterer Versuch gewesen war, einige Dinge für sich selbst zu verarbeiten, hatte sowieso nicht einmal ansatzweise zum gewünschten Erfolg geführt.

      Eigentlich hatte er die Absicht, einen Reisebericht über die weltberühmten Pagoden, die artenreichen Nationalparks oder einfach nur über die Menschen des Landes zu schreiben. Er wollte sich Zeit nehmen und treiben lassen, um so viele Eindrücke wie möglich in sich aufzusaugen und seinen Lesern ein getreues Bild der Lebenswirklichkeit abzuliefern.

      Bei der offenen und freundlichen Art der Einheimischen war es ihm sehr leicht gefallen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und etwas über ihr Leben, ihre Ängste und Sorgen zu erfahren. Die meisten Häuser der einfachen Leute besaßen keine Küche. Man bereitete die Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie oder Freunden auf der Straße zu und aß auch zusammen. Es war selbstverständlich, Reisende wie ihn zum Essen einzuladen, der schon durch seine Größe von mehr als ein Meter achtzig, der hellen Haut und den dunkelblonden, verwuschelten Haaren auffiel. Aber je länger er blieb und umso weiter er sich ins Landesinnere bewegte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass die Menschen große und gastfreundliche Gemeinschaften bildeten, die ihn zwar für eine gewisse Zeit aufnahmen, in denen er aber dennoch stets ein Fremdkörper blieb.

      Sein Gefühl von Einsamkeit, das er gehofft hatte, durch die Reise zu verlieren oder zumindest zu verdrängen, verstärkte sich noch, und die Lust, seine Erlebnisse zu notieren, wurde mehr und mehr von einer tiefen Gleichgültigkeit verdrängt.

      Notizbuch, Fotoapparat und Laptop, die drei wichtigsten Arbeitsmittel eines modernen Journalisten, verblieben zunehmend im Rucksack. Dafür fand er mit den selbstgebrannten Reisschnäpsen neue Freunde, die ihn anfangs nur abends, zunehmend aber auch viel früher am Tag besuchten. Irgendwann war ihm jeder noch so kleine Anlass recht, zur Flasche oder – um exakt zu sein – zum irdenen Krug zu greifen.

      In Thailand war es nun noch schlimmer geworden. Sicher, er hatte schon immer mehr als gemeinhin üblich getrunken; jetzt schien er aber langsam die Kontrolle zu verlieren. Weil er andere Rauschgifte, die ihm ständig in den Bars oder den Straßen angeboten wurden, auch weiterhin kategorisch ausschlug, verleugnete Torben sein Suchtproblem vor sich selbst. Noch immer vertrat er die Meinung, wenn er nur den ernsten Vorsatz hätte, könnte er jederzeit mit dem Trinken aufhören.

      Auch heute war er erst gegen Mittag aufgestanden. Sein Schädel schmerzte noch von den Erlebnissen der letzten Nacht, und er brauchte eine Weile, bevor sich die Übelkeit legte. Trotzdem zog es ihn bald wieder – wie die Tage zuvor – nicht zum Strand sondern zu einer der vielen grob zusammengezimmerten Blechbuden in Südpattaya, die an jeder Straßenecke zu finden waren. Sie nannten sich zwar selbst ‚Bierbars‘, aber eigentlich bestanden sie nur aus einigen Tischen und Kühlschränken. Mit dem Einbruch der Dämmerung versiegten diese Quellen und er musste gezwungenermaßen in einer der größeren Kaschemmen der Walking Street einkehren, quasi dem Vergnügungsviertel der Stadt.

      Er hatte sich gleich für die erstbeste Kneipe entschieden. Es war sowieso egal, wo er zechte. Das Bier und der Schnaps waren überall von der gleichen minderen Qualität.

      Er überlegte gerade, was er heute schon alles getrunken hatte, als mit einem Schlag wieder die Erinnerungen zurückkehrten, vor denen er eigentlich auf der Flucht war.

      Für Außenstehende gab er spätestens jetzt das Bild eines typischen Alkoholikers ab: Trotz der Klimaanlage, die schräg hinter ihm unter der Decke angebracht war, begann er zu schwitzen und seine Hände zitterten. Es war aber nicht das Gift in seinen Adern, das diese Symptome auslöste, sondern der Gedanke an die Erlebnisse der letzten Monate.

      Torben wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und bestellte bei Miss Damenbart, wie er sie wenig charmant in Gedanken nannte, hastig einen Lao Khao, einen einheimischen weißen Schnaps. Als sie die Flasche nach dem Eingießen wieder mitnehmen wollte, sorgte ein Zwanzigdollarschein dafür, dass sie achselzuckend von diesem Vorhaben wieder Abstand nahm und den Fusel vor ihm stehenließ.

      Nach dem zweiten großzügig eingegossenen Schnaps schien die Last der Welt, die er auf seinen Schultern trug, für einen Moment wieder etwas leichter zu werden, dann brachen sich die Erinnerungen und Gefühle jedoch umso gewaltiger ihren Bann und er gab es auf, sich dagegen zu wehren.

      Ihm kamen die Worte von seinem Freund Doktor George Meinert in den Sinn, einem Professor für Geschichte des 20. Jahrhunderts, dessen Wissen über die Zeit des deutschen Nationalsozialismus sie vor einigen Monaten zusammengeführt hatte.

      Meinert hatte ständig gesagt, dass etwas in Alkohol zu ertränken nicht funktionieren würde, da Alkohol konserviere. Aber, was wusste er denn schon! Er hatte auch gesagt, dass sie alle gesund aus dieser Sache herauskommen


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