Die Hoffnungsvollen. Anna Sperk
Prolog
Strahlender Sonnenschein und purpurblauer Himmel begleiteten den 1. Mai, zu dem sich die 6a der POS „Hans Beimler“ versammelte. Die Leute munkelten, dass die ‚Freunde‘ oder Sowjets, wie sie offiziell hießen, mit ihren Flugzeugen Kondensationsmittel in die Luft sprühten, um vor der Stadt den Regen auszulösen, der dann den „Internationalen Kampf- und Feiertag“ nicht mehr stören konnte. Obwohl nicht anzunehmen war, dass diese teure Prozedur auch in der Industrie- und Arbeiterstadt durchgeführt wurde, in der Alex lebte, hielt sich das Gerücht. Die Demonstranten freute der Sonnenschein. Der Marsch vorbei an der Tribüne kostete nur den Vormittag.
Der Treffpunkt lag gegenüber dem Centrum-Warenhaus in der Otto-Grotewohl-Straße und die Schüler standen in losen Gruppen herum. Auf dem Boden lagen rote, zusammengerollte Fahnen, blaue Tücher in Tüten und im Werkunterricht aus Holzleisten und Krepppapier gebastelte Nelken, für die sich die Schüler viel zu erwachsen fühlten, und die ihre Lehrerin zum Spaß aller Wink-Elemente nannte. Nach und nach strömten weitere Klassen zum Sammelpunkt und vor der Runden Ecke wurde es enger.
Alexandra Sanger war gerade zwölf Jahre alt. Ihre Pionierbluse hatte sie unter ihrem schönsten Pullover mit Fledermausärmeln versteckt, sodass nur der weiße Kragen heraussah. Gut sichtbar musste das rote Halstuch der Thälmannpioniere mit einem Pionierknoten gebunden sein. Ihre Jacke hatte sie lässig über die Schultern gehängt. Sie fühlte sich gut, wenn nur die Karottenjeans nicht wären, die sie inbrünstig hasste. Im Gegensatz zu einigen Mädchen in der Klasse, die auch zur Mai-Demonstration in Westjeans erschienen, hatte sie drüben keine Verwandten. Ihre Sachen waren aus der „Jugendmode“.
Alex stand mit zwei Freundinnen, die auch blaue Karottenjeans trugen, abseits der Klasse. Zu dritt verhandelten sie den Austausch neuer Bücher, die Anjas Vater besorgt hatte und die man, wenn überhaupt, nur unter dem Ladentisch bekam. Er war Parteisekretär bei der Wismut und Offizier der Staatssicherheit, weshalb er regelmäßig in speziellen Läden einkaufte, die für die Normalbevölkerung nicht zugänglich waren. Und hin und wieder bedachte er seine Tochter mit Geschenken, auf die nicht nur Anja, sondern auch Andrea und vor allem Alex spitz waren.
Die aktuellsten Bände von Erich Wustmann und Miloslav Stingl standen in ihren Regalen, Bücher, die es noch nicht einmal in der Stadtbibliothek auszuleihen gab. Wenn sie darin blätterte, fesselten sie die exotischen Bilder. Farbexplosionen, die Kontraste setzten zum schlichten Grau-Braun, in das die DDR gekleidet war, als würde der ‚real existierende Sozialismus‘ das Bunt aus der Landschaft saugen. Selbst das Grün der Bäume wirkte vor den Plattenbauten ihres Wohngebietes fade. Die Kleider einer Afrikanerin vor ihrer Lehmhütte oder die nackte, rot bemalte Haut eines Amazonasindianers im Urwald leuchteten dagegen so intensiv, als wäre die Sonne nur dafür geschaffen, um von ihnen reflektiert zu werden. Sie träumte davon, einmal in die Farben der Welt einzutauchen, und wenn sie es schaffte, dann wollte sie sie beschreiben und zu Menschen tragen, die zu wenig davon hatten. Wie sie selbst.
Ihr blieben nur die Abbilder dieser Welt, das Leuchten der Fotos, und wenn sie nach der Schule nicht las und sich Notizen machte, zeichnete sie die Motive der Abbildungen nach. Erst letzte Woche hatte sie die melancholischen Gesichter eines Mannes und einer jungen Frau vom Amazonas übertragen. Beide hielten die Blicke gesenkt, als würden sie stumm über die Abholzung des Regenwaldes klagen. Und dabei waren sie von einer verletzlichen Schönheit, dass Alex sich nicht mehr von ihnen lösen konnte. Wollten die beiden nicht einfach nur leben? Aber die Welt, in der sie wohnten, wurde gerodet. Und sie begann über das Leben nachzudenken, über ihr eigenes und über das anderer. Es schien in einen steinernen Tunnel gegossen, in dem Abzweigungen und die Wahl eines eigenen Weges nicht vorgesehen waren. Sie mussten in der steinernen Röhre entlanglaufen. Wer stehen blieb, wurde von der Masse geschoben.
Die farbenfrohen Bücher dagegen brachten Licht in ihr Leben. Ihr schillerndes Bunt, wie gern würde sie es einfangen und vervielfältigen. Doch es blieb in den Büchern, die sie irgendwann zuklappen musste, um sie zurückzugeben.
„Mein Gott, tun mir die Beine weh. Wann geht es endlich los?“ Andrea, die Christin im Bunde, riss sie aus ihren Gedanken. Das Warten zerrte an den Nerven, und genau dies stand den Schülern ins Gesicht geschrieben. Die Straße hatte sich dicht gefüllt. Neben der Klasse 6a umstand eine jüngere Gruppe mit den blauen Halstüchern der Jungpioniere ihre Lehrerin, die streng, aber mit freundlicher Stimme Anweisungen gab und dabei immer wieder ordnend ihre Hand auf die Schulter des einen oder anderen Schülers legte. Einige Arme reckten sich in die Luft. Die Jüngeren strahlten die freudige Pflichterfüllung