Im grünen Raum von Saint-Leu. Peter Lenzyn

Im grünen Raum von Saint-Leu - Peter Lenzyn


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funktionierende Ehe und seine beiden missratenen Kinder. „Sie haben mich sehr enttäuscht“, sagte er immer.

      „Du kriegst meine Mutter nicht.“

      Ich brachte meine Abneigung gegen unseren Nachbarn ziemlich unverhohlen zum Ausdruck. Er ließ aber trotzdem nicht davon ab, mich für sich gewinnen zu wollen.

      Mit seinem Helikopter landete er in unserem Garten und wehte dabei zwei Plastikstühle in den Pool. „Willst du den Piton de la Fournaise sehen?“, fragte er mich, als ich eingestiegen war. Einige Minuten später flogen wir einen Kreis durch den dampfenden Krater des Piton de la Fournaise. „Willst du das Trou de Fer sehen?“ – und gleich darauf flogen wir eine Acht durch das Trou de Fer mit den drei Wasserfällen und den im Wassernebel leuchtenden Regenbögen. Wir flogen vom Cirque de Salazie in den Cirque de Cilaos und weiter in den Cirque de Mafate – über Dörfer, die auf hohen, von der Sonne angestrahlten Bergplateaus angesiedelt waren und von denen sich silbrig glänzende Serpentinenwege in alle Richtungen wegschlängelten; durch tiefe, dicht bewaldete, von Fledermausschwärmen bevölkerte Schluchten – und über hohe, kahle Bergspitzen oberhalb der Wolkendecke. Wir flogen die springend herabkommenden Bergflüsse hinauf; über sattgrüne Zuckerrohrfelder hinweg und entlang der Strände der Hermitage; das türkise Wasser der Lagune und – weit draußen – die weiße Schaumlinie der auf das Riff schlagenden Wellen.

      Unser Nachbar flog mich wieder zurück, landete bei uns im Garten, sagte: „Du musst eine sehr wichtige Entscheidung treffen, ich hoffe, du triffst sie richtig“, hob mit seinem Helikopter ab und flog zum Golfplatz du Bassin Bleu, wo er sich für den Nachmittag für achtzehn Löcher verabredet hatte.

      Meine Mutter redete auf mich ein. „Er bietet uns Garantien, finanzielle Sicherheit.“

      „Das ist mir egal.“

      „Wir können hierbleiben.“

      „Das geht auch ohne den.“

      „Das geht nicht, das musst du verstehen.“

      Ich schüttelte angewidert den Kopf.

      „Gut“, sagte sie, „ich hoffe, du wirst es nicht bereuen.“

      Ich wusste nicht, wie schwer es nach den Jahren in La Réunion sein würde, sich an eine Welt zu gewöhnen, die kein Meer hat und in der es nicht das ganze Jahr hindurch warm ist. Und weil ich es nicht wusste, sagte ich: „Dann gehen wir wieder nach Paris.“

      „Ich will nur, dass du glücklich bist“, sagte meine Mutter.

      „Das will ich auch für dich.“ Ich war von meiner ausgedrückten Liebe zu meiner Mutter so überrascht, dass ich sie gleich zu überspielen versuchte. „Mit dem hätte ich dir das nämlich verdorben.“

      Ich stellte mir vor, wie sich unser zigarettenrauchender Nachbar mit meiner Mutter in den Freiluftjacuzzi gesetzt und mit einer Flasche Champagner auf den Sonnenuntergang angestoßen hätte; auch hätte er die in unseren Pool gefallenen Kokosnüsse herausgefischt, ein Loch reingehackt, einen Strohhalm hineingesteckt und sie mir mit einem Augenzwinkern hinter den dunklen Gläsern gegeben. Und wenn wieder ein Zyklon durch unseren Garten gefegt und eine Palme umgelegt hätte, wäre er wieder mit einer Machete gekommen, hätte die Palme zerhackt, das Palmenherz herausgenommen und daraus einen Salat gemacht. Wir würden den Palmenherzsalat gemeinsam und in großer Trauer um den vom Zyklon umgewehten Baum essen – und bald würde der Mann erneut von seiner nicht funktionierenden Ehe sprechen und von seinen Kindern, die ihn wirklich schwer enttäuscht hätten.

      Der Mann hatte sich in den ersten Wochen, die mein Vater tot war, von seiner besten Seite gezeigt, und da er mit seiner die Inseln von La Réunion, Mauritius und Mayotte beliefernden Offsetdruckerei sehr gut im Geschäft und also sehr vermögend war, stand er bei meiner Mutter hoch im Kurs. Es wäre nicht die schlechteste Wahl gewesen. Meine Mutter wäre mit mir auf La Réunion geblieben. Ich wäre mit Pierre-Yves, Guy und den anderen – vielleicht auch mit Abasse – weiter auf den Wellen von Roches Noires, Boucan Canot und Trois Bassins gesurft, ich hätte die Angst vor der Welle in Saint-Leu verloren und wäre sie mit größerer Regelmäßigkeit gesurft; ich hätte mein Abitur am Lycée Plateau Caillou gemacht, diesen Nachmittag mit Joëlle am Strand von Petit Boucan vergessen – und ich wäre mit einer hübschen, weißen Festlandfranzösin zusammengekommen. La Réunion hätte ich vielleicht noch einmal für den Militärdienst verlassen. Aber ich wollte unseren zigarettenrauchenden Nachbarn nicht bei uns im Haus haben.

      Zwei Monate nach dem Tod meines Vaters ging es nach Paris. Wir nahmen ein großes Flugzeug von Air France. Es startete in Gillot, hob ab und drehte eine Kurve über dem Meer. Wie es also schräg in der Luft lag, konnte ich ein letztes Mal auf La Réunion schauen, die hohen, grünen Berge, die Steilküste mit den schwarzen Felsen, Saint-Denis mit seinen weißen Häusern, welche um den Barachois herum dicht an dicht standen, höher in den Bergen vereinzelt weiß leuchteten und sich bald in einer Schlucht verloren, entlang eines trockenen Flussbetts – ein letztes Haus dort irgendwo hingeworfen wie ein Würfel, mit dem man seinen Einsatz verwettet hat.

      In Paris zogen wir in eine große Wohnung mit Dachterrasse in der Rue de l’Amiral de Joinville in Neuilly. Es war eine Wohnung, die der Familie meines Vaters gehörte. Sie wurde meiner Mutter unter der Bedingung gegeben, dass ich auf das Lycée Général „Louis Pasteur“ ging. „Eines der besten Vorbereitungsschulen“, sagte mein langhaariger Onkel, „Fundament meines eigenen Erfolgs.“

      Von seinem Erfolg erzählte mir mein langhaariger Onkel öfter. „Den größten Coup habe ich in Courchevel gelandet – es war bitterkalt, beim Unterschreiben der Verträge mussten wir Handschuhe tragen.“

      Mein Onkel war ein Mensch, der in Paris – und über Paris hinaus – etwas hergab; man konnte sagen, er war bekannt, denn er trat im Fernsehen auf. Immer wenn er das tat und sich zu einer anstehenden Firmenfusion äußerte, fanden wir uns vor dem Fernseher ein und schauten zu, wie er darüber sprach, ob durch diese Firmenfusion Werte geschaffen würden, ob Arbeitsplätze verloren gingen, es kartellrechtliche Bedenken gäbe, nationale Interessen berührt wären und so weiter. Da saß er im Fernsehen, seine tiefdunklen Augenringe mit einem Batzen brauner Farbe überspachtelt, seine hellgrauen Haare aus der Stirn gegelt und im Nacken zu Schwanenfedern aufgeplustert, und brummte präzise, scharfe Sätze ohne „Ähs“ und „Öhs“ hervor, Sätze, die in der Tagespresse intensiv diskutiert wurden und ihm anonyme Morddrohungen einheimsten, mit denen er dann herumprahlte. Mein Onkel wurde von der liberalen Gesellschaft Frankreichs gefeiert wie ein Seher, einer, der die Verhältnisse der französischen Wirtschaft vor allen anderen begriff – und wenn man von keinen Verhältnissen sprechen konnte, legte er sie mit ein paar im Fernsehen gebrummten Sätzen fest. Er hatte so eine besondere, überzeugende Präzisionsstimme, die tief und kraftvoll war und den Nippes auf den Kaffeetischen zum Hüpfen brachte. Und wie er es schaffte, für die gesamte Wirtschaft des Landes die Verhältnisse festzulegen, meinte er, es auch für meine Mutter und mich tun zu können.

      Ich ging also auf das Lycée Général, kam in die Première und sah mich umgeben von Schülern, die sich messingpolierte Brieföffner zum Geburtstag wünschten, ihren Eltern eine Freude damit bereiteten, lange Abschnitte aus den Iliaden auswendig aufzusagen – und klare Ideen darüber hatten, was sie später mal werden wollten.

      Als sie erfuhren, dass ich viele Jahre auf La Réunion gelebt hatte, wussten sie erst nicht, wo das war, und als sie von ihren Eltern hörten, dass das eine der französischen Inseln im Indischen Ozean wäre, schoben sie ganz hauptstädtisch hinterher, dass ich demnach aus dem Konfetti des Imperiums stammte.

      Ich hatte ziemliche Anlaufschwierigkeiten. Meine Schulnoten waren schlecht, ich ließ mich hängen. Meine Mutter wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte, sie bestellte einen Nachhilfelehrer. Der Nachhilfelehrer roch so stark, dass ich es ihm sagte: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich vor ihrem nächsten Besuch gründlich waschen würden, bitte auch unter den Achseln und an den Genitalien.“

      Statt sich vor dem nächsten Besuch ordentlich zu waschen, warf der Nachhilfelehrer meiner Mutter vor, sie hätte mich überhaupt nicht erzogen und würde ihrer Verantwortung als elterliche Instanz nicht nachkommen. Er beendete sein Erscheinen bei uns mit dem Zuschlagen der Wohnungstür,


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