Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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war diese Frau sicher nur ein Sandkorn in der durch die Planwirtschaft verursachten sowjetischen Wüstenei.

      *

      Im Juli 1990 ging es in Archys für Gorbatschow in erster Linie darum, kurzfristig Hilfe von außen für seine Misere im Innern zu bekommen und mit der Bundesrepublik einen langfristigen wirtschaftlichen Partner zu gewinnen. Angesichts des kolossalen Drucks, dem er von verschiedenen Seiten ausgesetzt war, ist es erstaunlich und bewundernswert zugleich, mit welcher Ruhe Gorbatschow agierte. Doch an fehlendem Selbstbewusstsein hat er nach eigener Darstellung nie gelitten, im Gegenteil. „Ich war oft einfach zu selbstsicher“, räumte er lange nach seinem Ausscheiden aus dem Amt ein.3

      Blickt man auf die Ereignisse rund um sein Sommer-Treffen mit der deutschen Seite, stockt einem der Atem. Alltäglich schlugen allein in der ersten Juli-Woche umwälzende Nachrichten ein. Das Nachkriegsgefüge, der Kalte Krieg, alles, was sich bis dahin politisch mit der Sowjetunion und dem Block-Denken verband, schien obsolet, und es wurde von Ost und West eine neue Zeit ausgerufen: eine Zeit der Kooperation und sogar der Freundschaft. Die NATO selbst erklärte auf ihrem Gipfel am 5. und 6. Juli 1990 in London nicht nur die Block-Konfrontation für beendet, sondern kündigte auch eine neue Militärstrategie an sowie „neue Streitkräftepläne, die den revolutionären Veränderungen in Europa“ Rechnung tragen sollten.4 US-Präsident George H. W. Bush erklärte feierlich in London: „Ich bin froh, verkünden zu können, dass meine Kollegen und ich mit einer umfangreichen Umgestaltung der NATO begonnen haben – und wir betrachten dies als einen historischen Wendepunkt. Die Londoner Deklaration gestaltet das Verhältnis zu unseren früheren Gegnern neu. Den Regierungen, die uns im Kalten Krieg gegenüberstanden, reicht unser Bündnis die Hand zur Freundschaft.“5

      Vertreter der Sowjetunion konnten daher davon ausgehen, dass sich die NATO von einem militärischen hin zu einem politischen Bündnis wandelte. Alle Staats- und Regierungschefs des Warschauer Pakts, des östlichen Militärbündnisses, wurden nicht nur persönlich in die Brüsseler NATO-Zentrale eingeladen, sondern es wurde ihnen auch die Möglichkeit gegeben, ständige diplomatische Verbindungen mit der NATO aufzunehmen. Dieses Angebot erging natürlich auch an die Sowjetunion, natürlich auch an Gorbatschow. Seine Zugeständnisse an die Deutschen hinsichtlich der militärischen und finanziellen Details sind unbedingt auch vor diesem Hintergrund zu erklären und nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Bedürftigkeit seines Landes in jener Phase. Grundsätzlich stand den Deutschen aber laut Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) das Recht zu, die Bündniswahl frei zu treffen; die Sowjetunion hatte da genauso wenig wie jeder andere Staat ein Mitsprache- oder gar Blockaderecht. Allerdings basierte die Schlussakte auf dem Prinzip der Selbstverpflichtung, sie hatte keinen verbindlichen Vertragscharakter.

      Vor diesem Hintergrund fand 1990 die Kaukasus-Reise statt, die einem eng getakteten Zeitplan folgte. Am Samstag, den 14. Juli, landeten die Deutschen vom Flughafen Köln/Bonn kommend am späten Abend in Moskau, wo am nächsten Morgen die ersten Gespräche im Gästehaus des Außenministeriums begannen. Außer den beiden Dolmetschern Andreas Weiß und Iwan Kurpakow nahmen neben Gorbatschow und Kohl nur die beiden Berater Horst Teltschik und Anatoli Tschernajew daran teil. Bei der Begrüßung fiel der berühmte Ausdruck vom „Mantel der Geschichte“ oder, was später medial entsprechend zurechtgebogen wurde, wie Helmut Kohl in seinen Memoiren festhielt:

      Gorbatschow begrüßte mich mit den Worten, die Erde sei rund und ich flöge ständig um sie herum. Mein Bedarf an Reisen sei gedeckt, erwiderte ich, aber es handle sich jetzt um historisch bedeutsame Jahre, und solche Jahre kämen und gingen, deshalb müsse man die Chance nutzen. Wenn man nicht handle, seien sie vorbei, meinte ich und führte Bismarck an mit dem Satz: „Man kann nicht selber etwas schaffen. Man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen – das ist alles“ – die Medien machten daraus dann den viel zitierten „Mantel der Geschichte“.6

      Gorbatschow erwiderte, er kenne den Bismarck-Spruch nicht, fände die Aussage aber interessant und richtig. Während des fast zweistündigen Gesprächs versicherte Gorbatschow ruhig, das vereinte Deutschland könne Mitglied der NATO sein, und laut Protokoll wiederholte er diese sensationelle Aussage sogar. In der anschließenden Pressekonferenz in Moskau wich er jedoch aus und ruderte etwas zurück, indem er – darauf angesprochen – erklärte: „Alles fließt“.7

      Kommt hier ein (vermeintliches) Wesensmerkmal des Politikers Gorbatschows zutage, das ihm nicht nur seine Gegner im eigenen Lande, sondern auch einige westliche Politiker und Kommentatoren während und nach seiner Amtszeit vorhielten? Dass er wankelmütig, zaudernd und ohne klare Linie sei? In Wirtschaftsfragen traf dies sicherlich zu, weil er davon wenig verstand. Angesichts der Komplexität der Probleme und der sich zum Teil explosiv gegenüberstehenden innersowjetischen Interessen- und Machtkonstellationen, die Gorbatschow im Blick haben musste, ist dieser Vorwurf in der NATO-Frage jedoch nicht berechtigt, zumal auch die westlichen Siegermächte nach dem Mauerfall erst ihre Positionen finden mussten. In Moskau demonstrierten zeitgleich zum Kohl-Besuch Hunderttausende gegen den sowjetischen Zentralstaat an sich. Die deutsche Delegation bekam allerdings von diesen Massenprotesten nichts mit, da sie vom Gästehaus des Außenministeriums, einige Kilometer vom Kreml entfernt, direkt zum Regierungsflughafen gebracht wurde.

      Die Flugzeit in das rund 1500 Kilometer südlich gelegene Stawropol im Nordkaukasus betrug etwa zwei Stunden. Hier hatte 1955 die Parteikarriere des 24-jährigen Gorbatschow begonnen. Stawropol war für die beiden Delegationen ein eher flüchtiger Aufenthalt mit drei Programmpunkten; verhandelt haben beide Seiten hier überhaupt nicht. Angesichts der Tatsache, dass Stawropol zwischen August 1942 und Januar 1943 unter deutscher Besatzung stand und ein Großteil der Bevölkerung damals vor der anrückenden Wehrmacht geflohen war, hatte der Besuch der deutschen Regierungsspitze aber einen hohen Symbolwert, der die uneingeschränkte Versöhnungsbereitschaft der sowjetischen Führung unterstreichen sollte. Am Ehrenmal für die Kriegstoten hielten Gorbatschow und Kohl inne – umringt von Hunderten Bürgern, darunter viele Veteranen.

      Hans Klein, mitgereister Sprecher der Bundesregierung und Bundesminister für besondere Aufgaben, notierte dazu: „Ein Sprecher der Veteranen, die zu dieser Kranzniederlegung gekommen sind, appelliert an Kohl und Gorbatschow, alles zu tun, damit Deutsche und Russen Partner würden und nie wieder Leid übereinander brächten. Jetzt ist dem Kanzler die Rührung anzumerken. Die alten Kriegsteilnehmer sind ohne Jacke, im kurzärmeligen Hemd, aber mit Orden und Auszeichnungen auf der Brust erschienen.“8 Dann erklimmen Gorbatschow, sein Außenmister Eduard Schewardnadse und andere Mitglieder der sowjetischen Führung gemeinsam mit Kohl, Genscher und Waigel die Tribüne des wuchtigen Lenin-Denkmals mitten auf dem zentralen Platz von Stawropol, um von dort der Menge zu huldigen wie sonst die Parteiführung anlässlich der Paraden zum 1. Mai oder zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Der Journalisten-Tross folgte ihnen auf Schritt und Tritt, aber inhaltlich gab es noch sehr wenig zu berichten.

      Lenin, immer wieder Lenin. Sein Porträt hing auch noch in Gorbatschows altem Büro, das er den Deutschen im Haus der Sowjets von Stawropol zeigte. „Hier hat alles angefangen“,9 erläuterte damals der Kreml-Chef. Um anschließend in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje und zu den Orten seiner Kindheit und Jugend zu gelangen, hätten die Delegationen jetzt gut 160 Kilometer nördlich reisen müssen. Sie flogen aber mit mehreren Hubschraubern in die entgegengesetzte Richtung, nach Archys, rund 300 Kilometer südlich von Stawropol.

      Auf dem Weg dorthin legten sie einen kurzen Zwischenstopp auf dem Acker einer Kolchose im Dorf Iwanowskoje ein, wo die beiden Staatsmänner mit den Dorfbewohnern in Kontakt kamen, einen Mähdrescher bestiegen und ein Stück gemeinsam fuhren. Der westdeutsche Botschafter in Moskau, Klaus Blech, hielt alles mit seiner V-8-Videokamera fest und kam somit in Besitz eines einzigartigen Filmdokuments, waren die Möglichkeiten der Medienvertreter während dieser historischen Kaukasus-Reise doch äußerst eingeschränkt. Botschafter Blech erinnerte sich: „Der Flug nach Archys – ob das große Historie würde, wussten wir nicht, aber dass es spannend werden würde, das war klar.“10 Noch vor der Dämmerung an jenem Sonntag, dem 15. Juli 1990, landeten Gorbatschow, Kohl und die Delegationen schließlich auf dem Hubschrauberplatz vor der Staatsdatscha.

      Kurz nachdem


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