Politik trotz Globalisierung. Gesine Schwan
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Vorwort
Dieses Buch soll praktisch wirken. Es soll dazu ermutigen und gangbare Wege dafür zeigen, sich mit anderen zusammenzutun, um in der Dauerkrise demokratischer Politik überzeugende Lösungen für unsere Herausforderungen zu finden.
Solche Wege brauchen Orientierung. Ich schöpfe sie aus tragfähigen ideengeschichtlichen Einsichten und aus den gegenwärtigen Erfahrungen von Politik. Zugleich müssen die aktuellen Herausforderungen illusionslos in den Blick genommen werden. Für demokratische Politik, die bisher in der Regel im Rahmen des Nationalstaats gedacht wird, ist heute die ökonomische Globalisierung, sprich: der globale Kapitalismus die entscheidende Herausforderung. Denn er überschreitet die Grenzen der Nationalstaaten und deren politische Reichweite. Damit kann er sich der einzelstaatlichen Kontrolle und Gestaltung entziehen.
Dem müssen wir uns konsequent stellen, dürfen uns bei der Frage nach Sicherung und Weiterentwicklung demokratischer Politik nicht immer wieder – explizit oder implizit, oft schon in der Wortwahl – in gewohnte und bequeme Vorstellungen nationalstaatlicher Demokratien zurückflüchten. Ohne transnationale, grenzüberschreitende demokratische Politik, die die ökonomische Globalisierung aus ihrer marktradikalen Deregulierung wieder einfängt und sie menschlich gestaltet, können unsere politischen Probleme – insbesondere weltweite Freiheit, Sicherheit und gerechter sozialökologischer Wandel – nicht mehr gelöst werden. Damit verlöre demokratische Politik endgültig ihre Glaubwürdigkeit. Dies führt uns die Corona-Krise existenziell vor Augen.
Zugleich brauchen wir konkrete Antworten vor Ort und vor allem mehr Möglichkeiten für Bürger*innen, sich wirksam mit ihren Kompetenzen zu beteiligen: demokratische Politik zum Anfassen. Dafür mache ich den Vorschlag, „Entwicklungsbeiräte“ einzurichten. In ihnen berät gewählte Politik – bei der die Entscheidung verbleibt – gemeinsam mit organisierter Zivilgesellschaft und Unternehmen über die längerfristige Entwicklung. So kann auch die kapitalistische Wirtschaft in die politische Verantwortung einbezogen werden. Und so kann insbesondere auf der Ebene der Kommunen die Quadratur des Kreises gelingen, direkte und wirksame Bürgerteilhabe mit legitimierter repräsentativ-demokratischer Politik zu vereinbaren. Was man gemeinsam beraten und erarbeitet hat, verbindet, auch wenn es nicht legal bindet.
Nicht zufällig ist mit Entwicklungsbeiräten, für die ich eintrete, zuerst in der Entwicklungszusammenarbeit experimentiert worden: beim Bau von Staudämmen, um zu vermeiden, dass die Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft auf Kosten der betroffenen Bürger*innen geht, deren Wohngebiete geflutet werden sollten; und bei UNEP (UN Environment Programme) sowie UN-Habitat (UN Human Settlements Programme), wo zusammen mit den Bürger*innen neue Wege der Stadtentwicklung ausprobiert wurden. Von Jochen Eigen, der als Leiter der Stadtentwicklung viele Jahre lang für „Sustainable Cities“ neue Ideen entwickelt und ausprobiert hat, konnte ich über die Vorteile der Zusammensetzung dieser Beiräte aus Politik, organisierter Zivilgesellschaft und Unternehmen viel lernen. Dafür danke ich ihm herzlich.
Am schwersten fällt es gewählten Politiker*innen und Geldgeber*innen bis heute, Vertrauen in die politische Klugheit und Verantwortungsfähigkeit der Bürger*innen aufzubringen. Auch in der Europäischen Union finanziert man lieber Einzelprojekte mit berechenbarem Ergebnis als das Ausprobieren neuer Governance-Formen, bei denen man das Resultat nicht genau vorherbestimmen kann. Dabei brauchen wir gerade solche neuen Governance-Formen dringend, für gute Lösungen und für die Stärkung demokratischer Politik.
Ganz im Geiste der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (UN Sustainable Development Goals), die für den Süden wie für den Norden gelten sollen, bietet die Entwicklungszusammenarbeit dafür eine reiche Inspiration, eben auch für uns im Norden. Deshalb ziehe ich bis heute wertvollen Gewinn aus den Gesprächen mit meinem Mann Peter Eigen, der nicht nur die Antikorruptionsorganisation „Transparency International“ gegründet hat, sondern zuvor 25 Jahre lang Erfahrungen in der Weltbank sammeln konnte. Es muss nicht schlimm sein, wenn Ehegespräche sich auch um Entwicklungspolitik drehen …
Danken möchte ich Thymian Bussemer, der für mich viele Jahre lang ein „Sparringspartner“ in politischen Gesprächen war, insbesondere während meiner beiden Kandidaturen für das Amt der Bundespräsidentin. Er hat Wichtiges zum Abschnitt über Hannah Arendt beigesteuert. Die jungen Mitarbeiter*innen der „HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform“, die ich seit Jahren leite, fordern mich täglich unbestechlich und zugleich sehr freundlich heraus, meine Gedanken zu klären. Das ist mir eine wertvolle Hilfe.
Ich danke auch Clemens Heucke für die Einladung, diesen Essay bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zu publizieren, und seinem Team, insbesondere Regine Gamm, für dessen Engagement bei der Veröffentlichung des Manuskripts.
Gesine Schwan, im Juli 2020
Einleitung
Politik hat einen schlechten Ruf. Vielen steht sie für Unredlichkeit, Undurchsichtigkeit, Mangel an Sachkenntnis, die Unfähigkeit, Lösungen zu finden, und für unaufhörlichen Streit. „Ein politisch Lied, ein garstig Lied.“1 Deutsche Bildungsbürger*innen wollten mit Politik, der es doch nur um Macht gehe, historisch lange nichts zu tun haben. Unternehmer*innen verachten sie heute vielfach, weil sie erfolgreiches Wirtschaften und schnelle Entscheidungen nur bürokratisch beeinträchtige und kein Problem löse. Die liberale Demokratie hat an Glaubwürdigkeit verloren.
Das ist beunruhigend. Denn wir leben nicht wie Robinson allein (oder mit seinem Freund Freitag) auf einer Insel, sondern zusammen mit Milliarden anderer Erdenbürger*innen auf einem endlichen Planeten. Was wäre statt Politik die Alternative für die Gestaltung unseres Zusammenlebens? Was wäre statt der Demokratie eine politische Ordnung, in der wir friedlich zusammenleben können? Ein aufgeklärter Diktator oder eine Avantgardepartei, die effizient Flughäfen baut und mit künstlicher Intelligenz für Disziplin und Ordnung sorgt? Eine „neutrale“ Technokratie, die aus eigener Sachkenntnis weiß, was für uns alle am besten ist? Die Hoffnung, dass sich alles findet, wenn man Herrschaft einfach abschafft? Die Regelung aller Angelegenheiten durch den lokalen, nationalen oder globalen Markt?
So klar würde wohl niemand für eine dieser Alternativen plädieren. Aber unter der Hand und sogar immer ausdrücklicher kommen doch zunehmend Zweifel daran auf, ob demokratische Politik noch zeitgemäß ist, ob sie in einer hochkomplexen Welt zufriedenstellende Lösungen schaffen kann, ob die Menschen, die immer stärker unter Stress stehen, überhaupt genügend Zeit für sie haben. Zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Stopp des Klimawandels in einer Demokratie denn zu bewerkstelligen ist. Hat demokratische Politik noch eine Zukunft? Macht sie noch Sinn?
Im Unterschied zur Politik im Allgemeinen verspricht demokratische Politik – als institutionelles System, als politische Kultur und als konkrete Umsetzung von Entscheidungen – zumindest theoretisch, dass sie global die beste Chance für alle Menschen bietet, ein Leben in Würde, d. h. in Freiheit und Verantwortung, zu führen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – mit diesem Satz beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff ist – wie alle umfassenden und traditionsreichen Begriffe – umstritten und nicht eindeutig definierbar. Für mich ist er der notwendige Anker aller Politik. Wenn wir auf ihn verzichten, wird Politik haltlos. Die Würde des Menschen, die faktisch oft verletzt wird,