Mami Bestseller Staffel 4 – Familienroman. Jutta von Kampen
nur für Angies Geschmack zu tief ausgeschnittene Bluse. Aber Hubs würde sich darüber natürlich freuen.
»Guten Morgen, Fräulein Anderson!«
»Guten Morgen, Frau Winkler. Das sind die Gardinen für das Arbeitszimmer. Ich habe sie gestern in einem Geschäft am Marktplatz entdeckt und gleich nähen lassen.«
»Das war nicht ganz richtig, Fräulein Anderson. Keiner hat Sie darum gebeten. Billig waren die bestimmt nicht.« Angie bewunderte sich selbst. Es mußte an ihrem neuerweckten Selbstbewußtsein liegen, daß sie noch so viel Ruhe bewahren konnte. Nora kniete sich zu ihr.
»Sind die nicht hübsch? Herr Stellmann wird sich freuen. Ein Mann wie er braucht Freude, Licht und Blumen um sich herum. Er hat immer in düsteren Büros gesessen. Jetzt lebt er hier in der Natur und kann endlich so heiter sein, wie es seinem Naturell entspricht.«
»Wie bitte? Kennen Sie meinen Bruder denn so gut?«
Nora senkte den Blick, dann hob sie die Schultern. Geduldig erwartete Angie eine Antwort, aber es geschah nichts. Schließlich erhob Nora sich und verließ den Raum. Angie starrte wieder auf die bunten Blumen. Nora mußte verrückt geworden sein! Offensichtlich war ihr Hubs’ Verhalten auf den Wecker gefallen, und sie entsann sich jetzt, daß sie eine erwachsene Frau und kein Teenager mehr war. Nun ja, Angie konnte es verstehen, wenn auch nicht ohne Staunen. Trotzdem blieb das sich ständig vertiefende Unbehagen. Irgend etwas mußte geschehen. Aber wie wurde sie Nora wieder los?
Sie ging wieder in die Küche. Inzwischen hatte Frieda das Schinkenomelett zu Wolfi getragen und bereitete den Morgenkaffee. Die Handwerker trafen ein, das Hämmern und Bohren ging wieder los.
Xenia tauchte auf und bat um ihre Cornflakes. Dann saß Angie mit ihrer Nichte in der Küche und frühstückte.
»Willst du heute nicht mal einen Brief an deine Mami schreiben, Xenia? Deine Mami freut sich bestimmt. Du kannst dich in den Garten setzen und vielleicht ein kleines Bildchen für deine kranke Omi zeichnen. Dann wird sie schneller gesund.«
»Nee, das wird sie nicht. Mami kommt nicht wieder.«
»Was? Deine Mami kommt nicht wieder? Woher weißt du das?«
Xenia löffelte weiter. Angie trank den heißen Kaffee. Nur mit Mühe bezähmte sie ihre Ungeduld. Aber sie wollte ihre Nichte ungern aushorchen. Irgend etwas aber stimmte einfach nicht. Mochte der Himmel wissen, was gestern abend hier sonst noch alles vorgefallen war. Sie hätte eben nicht mit Thomas ausgehen sollen!
»Wer sagt denn, daß deine Mami nicht wiederkommt?« fragte sie dann doch.
Einer der Installateure betrat die Küche.
»Frau Winkler, schauen Sie mal!« Er ging zum Wasserhahn und drehte ihn auf. »Die Therme ist endgültig angeschlossen!«
Angie erhob sich und hielt ihre Hand unter den Wasserstrahl.
»Autsch! Ist das heiß!« rief sie erschrocken und freute sich dann von Herzen. Wenigstens das war in Ordnung. Schritt für Schritt wurde die Villa bewohnbar. Und wenn Natalie wiederkam…
Sie wollte jetzt endlich Xenias Antwort hören, aber die war schon aufgestanden und davongerannt. Dafür kam Hubs mit schlurfenden Schritten in die Küche, sah den Installateur und seine Mutter mit tieftraurigen Augen an, nahm sich schweigend eine Tasse und füllte sie mit Kaffee.
»Was ist los?« erkundigte Angie sich. Sie kannte das Gesicht ihres Sohnes. Das verliebte Strahlen war verschwunden. Oder drückten ihn die mathematischen Probleme?
Er setzte sich, und als der Handwerker die Küche verlassen hatte, rückte er langsam mit der Sprache heraus.
»Nora ist so komisch, Mami. Sie kümmert sich nur um die Kleinen. Ich bin ihr völlig schnuppe. Kannst du nicht mal wieder mit Wolfi spielen?«
»Ich mit Wolfi spielen? Na, hör mal! Der Junge soll raus an die frische Luft. Er ist kerngesund. Aber wenn deine Schwedin ihm so einen Unsinn eintrichtert und sich hier unbedingt wie die Dame des Hauses aufspielen muß.«
»Sie hat Kinder so gern«, entgegnete Hubs. »Sie möchte am liebsten selbst welche, Mami.«
Seine Worte taten ihr weh. Sie hatte geahnt, daß der unbeschwerte Ferienflirt nicht ohne schmerzliche Erfahrungen für Hubs vorübergehen würde. Aber daß Nora jetzt ihre Mütterlichkeit ausspielte, war unfair. Nora hatte gewußt, wie jung Hubs war. Von Anfang an.
»Du mußt nicht traurig sein, Hubs. Die Zeit in Lüttdorf ist für uns bald zu Ende. Wenn wir wieder in München sind, wirst du andere Mädchen kennenlernen. Mädchen, die im Alter besser zu dir passen.«
Er stellte seine Tasse ab. »Aber ich liebe Nora, Mami. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich fühle mich so mies. Ich glaube, ich bin eifersüchtig auf meinen kleinen Vetter und meine Kusine.«
»Hallo?« rief jemand oben in der Halle. Angie sah Hubs verwundert an. Wer konnte das sein? Die Handwerker wußten doch längst, daß sie um diese Zeit an dem einzigen Tisch im Haus vorzufinden war.
»Hallo! Angie! Xenia, Wolfi! Wo steckt ihr denn alle? Ist keiner im Haus?«
»Gerd!« rief Angie und sprang auf. Sie winkte Hubs. »Gerd ist wieder da! Gott sei Dank! Na, das wurde ja auch Zeit.«
Sie eilte nach oben und sah ihren Bruder bereits die Treppe hinaufgehen.
»Daß du dich auch mal wieder blicken läßt!« schimpfte sie hinter ihm her und beeilte sich, damit sie ihn einholen konnte. »Wo hast du denn eigentlich solange gesteckt?«
Gerhard Stellmann umarmte sie flüchtig. »Wo sind die Kinder?«
»Oben. Wolff ist krank. Das heißt, er ist schon wieder gesund. Aber wir haben eine nette Kinderpflegerin für ihn gefunden. Jetzt genießt er sein Kranksein.«
Gerhard stürmte voran. Dabei sah er sich um. »Prima, Angie. Hier ist einiges passiert. Ich bin dir sehr dankbar. Es ist doch nichts Ernstes mit Wolfi?«
»Papi!« rief der Junge schon aus dem Kinderzimmer. Gerhard betrat es. Als er Nora sah, blieb er wie angewurzelt stehen.
Angie stellte sich hinter ihn. »Das ist Nora, Gerhard. Sie ist eine Bekannte von Hubs.«
Nora saß an Wolfis Bett und strahlte Gerhard an.
Angie, die eine förmliche Begrüßung erwartete, mußte zu ihrer größten Bestürzung hören, daß ihr sonst gut erzogener Bruder »Raus!« sagte. Sie glaubte, etwas falsch verstanden zu haben. Aber Gerhard Stellmann wiederholte dieses unfreundliche Wort, und es klang jetzt sogar wütend.
»Du nimmst sofort deine Sachen und verschwindest, Nora!«
Wolfi sah vom Vater zu Nora und wieder zu seinem Vater.
»Papi!« hauchte er dann. »Papi, Nora ist doch lieb. Warum bist du denn so böse?«
Gerhard antwortete nicht. Nora erhob sich. Ihr Gesichtsausdruck hatte von einem strahlenden Lächeln zu einer eisigen Miene gewechselt.
Sie nahm ihre Handtasche von dem kleinen Tischchen neben Wolfis Bett und ging an Gerhard und Angie vorbei aus dem Zimmer. Gerhard wandte sich um und folgte ihr.
»Was hat Papi denn?« fragte Wolfi und konnte plötzlich ganz flink aus dem Bett springen. Angie erwischte ihn gerade noch am Pyjamajäckchen.
»Bleib hier, Wolfi. Warte mal lieber ab, was passiert.«
»Aber Nora darf doch nicht einfach weggehen, Tante Angie!«
Angies Knie zitterten. Sie mußte sich auf das Bett setzen, und so zog sie den Kleinen gleich auf ihren Schoß. Sie fand keine Worte. Ihre Ahnung hatte sich bestätigt. Irgend etwas hatte diese Nora im Schilde geführt, nur wußte sie noch nicht, was.
Während sie Wolfi an sich drückte, galt ihr ganzes Mitleid ihrem eigenen Sohn. Hubs war mißbraucht worden. Jetzt mußte sich nur noch klären, warum und wozu.
Unten hörte sie Autotüren klappen. Dann wurden hintereinander zwei Motoren angelassen.