KHAOS. Lin Rina
es hatte sich so viel verändert. Mein Inneres hatte sich völlig verdreht. Ich schürfte Hoffnung, wo vorher Mutlosigkeit gewesen war, verspürte Gefühle, wo mich vorher Einsamkeit und Leere gefüllt hatten. Und auch wenn meine Umstände eigentlich nicht anders waren als zuvor, fühlte ich mich doch besser und mein Leben hatte eine gewisse Richtung bekommen, ein Zentrum, um das ich mich drehen konnte.
Ich scheuchte die Gedanken beiseite, konzentrierte mich auf das Wesentliche und dehnte meine Sinne aus. Langsam tastete ich mich durch den Raum, in die angrenzenden und in die unter mir. Ich nahm mich zusammen, sammelte Kraft und spannte mich über das ganze untere Stockwerk, tief in den Boden, in die Wurzeln der Station, in denen nur noch Energiereserven und anderer zerfallener, technischer Schnickschnack sein mussten.
Natürlich fand ich nichts. Wäre wohl auch zu einfach gewesen.
Die neunzehn Vermissten waren also nicht auf dieser Station. Dessen konnte ich mir schon mal sicher sein.
Ich klopfte mir die dunkle Hose ab, verließ den Raum, um hinauf in das bewohnte Areal zu steigen, und kam an einem der unzähligen Terminals vorbei, die überall an den Wänden angebracht waren. So wie bei fast allen, waren auch hier die Kabel aus der Wand gerissen und die blanken Drähte zeigten wie mahnende Stachel zur Decke.
Sie waren in ihr eigenes Verderben gelaufen, dachte ich bei mir und seufzte. So gut wie jeder Computer war von den Männern zerstört worden, als sie vor fünfzehn Jahren die Station übernommen hatten. Doch damit hatten sie sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Und zwar auf diesem Planeten, von dem es ohne Raumschiff kein Entkommen gab. Keine Computer, keine Sendefunktion. Keine Sendefunktion, kein Kontakt zur Außenwelt. Natürlich hatten sie sich für schlau gehalten, die Wärter und alle anderen Offiziellen dadurch an einem Hilferuf zu hindern. Doch eigentlich hatten sie sich damit selbst ein Grab geschaufelt.
Nicht alle Terminals waren so zerstört wie dieses. Vielleicht könnte ich eines davon in Gang bekommen, um wenigstens auf die internen Daten zugreifen zu können. Lieferscheine, Gefangenenübergabeprotokolle. Wenn ich sehen könnte, was über die Kryokapseln dokumentiert war, wüsste ich vielleicht auch, wie viele es ursprünglich gewesen waren.
Doch mein technisches Verständnis war leider sehr eingeschränkt und ich kannte nur wenige, die davon wirklich Ahnung hatten. Die meisten von ihnen würden mir sowieso nicht helfen wollen.
Außer vielleicht … Hatte Erikson nicht vor seiner Zeit als Häftling als technischer Offizier auf einer Militärbasis gedient? Er hatte auch schon einige Dinge repariert. Kleinigkeiten meistens, wie in der Küche etwas auszubessern, Stromleitungen zu überprüfen, zu kitten – und einmal hatte er einen Wackelkontakt in meiner Wärmekammer behoben.
Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg zu ihm. Obwohl es mitten in der Nacht war, konnte ich dem Drang einfach nicht widerstehen. Ich würde es als Krankenbesuch tarnen. Mit größter Wahrscheinlichkeit war der Mann sowieso nicht bei Bewusstsein, aber nachschauen kostete nichts.
Leise klopfte ich an Eriksons Tür und wartete. Drinnen erspürte ich zwei Personen. Erikson schlief und auch wenn sein Zustand besser geworden war, würde ich ihn wohl kaum wecken können. Mist!
Nefrots Seele zeigte mir, dass er noch wach war und lauschte. Ich spürte Unsicherheit und Unglauben. Er war sich nicht sicher, das Klopfen wirklich gehört zu haben. Ich klopfte noch einmal und jetzt kam Leben in ihn. Nur ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür.
Nefrot schien nicht überrascht zu sein, mich vorzufinden. Wer sollte sonst mitten in der Nacht durch die Gänge schleichen?
Für einen Moment starrte er geschockt auf den tief lilafarbenen Bluterguss auf meiner Wange, sagte aber nichts dazu.
»Ich hab das Gefühl, es geht ihm besser«, teilte Nefrot mir mit, während er zur Seite trat, um mich durchzulassen. Er sah ziemlich zerwühlt aus, als ob er schon eine Weile wach gelegen und sich herumgewälzt hätte. Sein Haar stand in alle Richtungen ab und unter seinen Augen befanden sich dunkle Ringe. Ich konnte sein Lager aus einer Matratze und ein paar Decken neben der Wand ausmachen.
Ich trat näher an Eriksons Bett, legte dem Mann die Hand auf die Stirn und warf einen prüfenden Blick auf den Verband um seine Mitte herum. Es war nicht unbedingt notwendig für mich, solche Gesten auszuführen. Doch andere wurden schnell misstrauisch, wenn ich Diagnosen stellte, ohne mir die Leute richtig angesehen zu haben.
»Ich denke, du hast recht«, gab ich zurück und kaute auf meiner Unterlippe. Ich musste mich richtig überwinden, Nefrot anzusprechen. Selten war ich diejenige, die ein Gespräch begann. Meistens war ich froh, wenn man mich in Ruhe ließ.
»Würdest du mir Bescheid sagen, wenn er aufwacht? Ich brauche seinen technischen Rat«, kamen die Worte ganz beklommen aus meinem Mund geschlichen und Nefrot hob die Augenbrauen.
»Technischer Rat?«, wiederholte er und zuckte mit den Schultern. »Ist was kaputt? Soll ich’s mir mal ansehen?«, bot er an und ich blinzelte überrascht. Seine Seele strotzte vor Stolz und Überzeugung, der Aufgabe gewachsen zu sein. Vielleicht rührte daher auch die bestehende Wechselbeziehung zwischen ihm und Erikson. Vielleicht fühlte es sich nicht nur an wie eine Schüler-Lehrer-Beziehung, vielleicht war es eine.
»Äh, nein«, sagte ich, obwohl ich eigentlich etwas ganz anderes meinte. »Ich meine: ja«, verbesserte ich mich hastig und war mir im Klaren darüber, dass ich das besser erklären müsste. »Es ist nicht direkt etwas kaputt. Aber …« Hoffentlich konnte ich das fragen, ohne dass ein langer Rattenschwanz an Fragen hinterhergezogen wurde.
Nefrot sah mich erwartungsvoll an. Er war ganz übermütig bei dem Gedanken, sich selbst zu beweisen. Vielleicht konnte ich das für mich nutzen.
»Ich müsste an einen Terminal. Interne Daten, weißt du. So medizinisches Zeug … Lieferungen, Standorte … oder so«, brachte ich wenig überzeugend hervor. »Und du kannst so was auch?«, fragte ich vorsichtig nach und versuchte, meiner Stimme eine gewisse Bewunderung zu verleihen.
Nefrot grinste und seine Gefühle zeigten mir, dass ich ihn schon im Sack hatte. »Ich lern’s grad. Und sich’s mal anzuschauen, kostet ja nix, oder?«, behauptete er lässig und schob sich die Hände in die Gesäßtaschen. Doch seine Seele verriet mir, dass er es aus Unsicherheit tat und dass er krampfhaft versuchte, cool auf mich zu wirken.
Das konnte er von mir haben, wenn er wollte, solange er keine weiteren neugierigen Fragen stellte. »Okay. Unten im alten Gefängnistrakt sind noch welche, die nicht so zerfranst sind wie die hier oben«, erzählte ich, lächelte schüchtern und strich mir sogar eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Nefrot wurde immer aufgeregter und ich beschloss, dass ich genug Entgegenkommen gezeigt hatte.
»Na, dann los! Ich hol das Werkzeug und wir treffen uns am … na ja, nicht mehr Schutthaufen«, sagte er und lachte, um seine Unsicherheit zu überspielen.
Allein mit einem jungen Mann in die Katakomben des Gefängnisses vorzudringen, machte mich nervös und ängstlich. Ich versuchte mich mit der Tatsache zu trösten, dass ich wahrscheinlich schon vor ihm wusste, wenn er vorhaben sollte, mich zu überfallen.
Allerdings hatte ich bei ihm solche Gefühlsausbrüche noch nie gesehen. Im Großen und Ganzen schien Nefrot zu den Männern zu gehören, die noch idealisierte Vorstellungen vom Leben hatten; die etwas durch Können erreichen wollten, nicht durch Gewalt.
Doch ich hatte schon einige Male gesehen, wie schnell sich Meinungen ändern konnten, wie schnell Prinzipien zerbröckelten.
In die Seelen der Leute sehen zu können, zeigte mir, wer sie wirklich waren, die hellen und die dunklen Seiten. Man konnte mich nicht belügen. Und auch wenn ich es benutzte, um mich selbst zu schützen, wünschte ich mir manchmal, einfach wie alle anderen zu sein und in Unwissenheit einen gewissen Frieden zu finden.
Wir liefen an der Balustrade entlang, die einmal um den See führte, den Nefrot mit erschrockenen Empfindungen betrachtete. Als eines der größeren Tiere sich aus dem Wasser hob und uns die spitzen, stachelartigen Schuppen auf seinem Rücken zeigte, zuckte er sogar zusammen.
»Sind