Animant Crumbs Staubchronik. Lin Rina

Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina


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»Nehmen Sie sich einfach ein bisschen Zeit und sehen sich dort unten um. Sie scheinen ja sowieso für alles ein bisschen länger zu brauchen«, spottete er über mich, ohne sich noch mal zu mir umzudrehen, verschwand unter dem Rundgang und so auch aus meinem Blickfeld. Ich stand immer noch am oberen Ende der Treppe und ballte meine Fäuste so fest, dass ich in einer Hand den Notizblock zerquetschte.

      Das war jetzt mehr als nur bloße Unhöflichkeit. Das war eine Beleidigung gewesen und ich wäre diesem Mann nur zu gern hinterhergerannt und hätte ihm irgendwas an den Kopf geworfen. Worte möglicherweise. Aber am liebsten ein Buch oder einen großen Stein.

      Doch ich zwang mich stattdessen tief durchzuatmen, strich die Seiten meines Blocks wieder glatt und stieg, den Kopf würdevoll nach oben gereckt, die Stufen nach unten.

      Mr Reed stand nahe der Treppe an einem Regal, fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchrücken und zog dann eins heraus. Er klemmte es sich unter den Arm und suchte ein weiteres.

      Ich blieb nicht stehen, um ihn zu beobachten, ich hatte meine Arbeit zu erledigen. Und nur, weil ich noch nicht so routiniert war und einen Hang zur Gründlichkeit hatte, brauchte dieser hochnäsige Mensch sich gar nicht anmaßen, sich über mich lustig zu machen.

      Ich lief zu dem Ständer mit den Zeitungen, nahm alle heraus, die täglich erschienen, und stemmte mich gegen den Schraubverschluss der hölzernen Einspannungen. Sie waren so fest zugedreht, dass mir schon nach dem dritten die Finger schmerzten, doch ich blieb dran, versuchte es mir nicht anmerken zu lassen und stapelte die Zeitungen neben mir auf einem Hocker, der an der Wand gestanden hatte.

      Nachdem ich fast fertig war, kam ein Junge in die Bibliothek geschlurft. Er war vielleicht gerade mal zehn, hatte eine viel zu große Jacke an und die Mütze auf seinem Kopf rutschte ihm ständig in die Augen. Unter dem Arm trug er einen Stapel Zeitungen und lief damit schnurstracks auf den Tresen zu. Mit einem dumpfen Geräusch landete das bedruckte Papier auf der Tischplatte. Ich ging ihm entgegen und als er sich die Mütze vom Kopf gezogen hatte, blickten seine Augen in meine Richtung. Rote Haare standen unordentlich von seinem Kopf ab, seine Wangen waren von der Kälte gerötet und Millionen kleiner Sommersprossen zierten sein Gesicht.

      »Guten Morgen«, grüßte ich leise und zog den seidenen Beutel aus meiner Rocktasche.

      »Morgen«, nuschelte der Junge und musterte mich unverhohlen von oben bis unten. »Sie sind aber ’ne schicke Maus«, sagte er mit dem Ton eines Seemanns in der Stimme und zwinkerte mir selbstgefällig mit einem Auge zu.

      Ich hielt die Luft an.

      Gut, dass meine Wut auf Mr Reed noch ganz frisch war und ich gegenüber einem ungewaschenen, übermütigen Straßenburschen keinerlei Scheu hatte, diese Wut auch zu zeigen.

      »Erstens ist mein Name Miss Crumb!«, kam es so scharf aus meinem Mund geschossen, dass dem Jungen dabei das Grinsen auf der Stelle verging. »Zweitens wirst du in Zukunft weder unhöflich noch unverschämt sein. Solltest du also jemals wieder auf die dumme Idee kommen, mich nach einem Nagetier zu benennen, werde ich dich an einem Ohr hier rauszerren und dafür Sorge tragen, dass sich ein anderer Junge mit besseren Umgangsformen für deine Arbeit findet.«

      Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und seine Augen, die mir gerade noch so unverblümt entgegengestarrt hatten, senkten sich auf seine schäbigen Schuhspitzen.

      »Hast du mich verstanden?«, forderte ich ihn auf, mich zu bestätigen, und stellte mit Befriedigung fest, wie er nervös seine Mütze zwischen den Fingern knetete.

      »Ja, Ma’am«, kam es kleinlaut aus seinem Mund und ich atmete einmal tief durch, ehe ich den Seidenbeutel öffnete und zwei Schilling herausnahm.

      »Mr Reed sagte, du bekommst zwei Schilling«, eröffnete ich ihm und er nickte zaghaft. Ich hielt ihm die Münzen hin, er nahm sie zögerlich entgegen und versenkte sie in seiner Jackentasche.

      »Danke, Ma’am«, nuschelte er und räusperte sich dann. Sein Blick huschte umher, weil er nicht wusste, wohin er schauen sollte, und dann holte er tief Luft. »Darf ich jetzt gehen?«, wollte er wissen und ich war von mir selbst beeindruckt.

      Ich hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt. Seit ich selbst keins mehr war, waren sie mir uninteressant und strapazierten lediglich meine Nerven.

      Daher hätte ich auch nie von mir gedacht, dass ich dazu fähig war, einem von ihnen Respekt einzuflößen.

      Meine Mutter hatte meine dunklen Röcke oft als Kluft einer Gouvernante geschimpft. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.

      »Ja, nachdem du dich verbeugt und mir einen Guten Tag gewünscht hast, wie es sich in Gegenwart einer Dame gehört«, forderte ich und fragte mich, ob es nicht langsam zu viel des Guten war. Doch wahrscheinlich würde er es sonst nirgendwo anders zu hören bekommen und ein paar gute Umgangsformen zu besitzen, hatte noch niemandem geschadet.

      Der Junge folgte meinen Anweisungen, verbeugte sich so ungelenk, als würde er es das erste Mal tun, wünschte leise einen Guten Tag und rannte dann so schnell davon, dass seine Schritte unangenehm laut durch das ganze Foyer hallten.

      Jetzt ging es mir besser. Ich hatte meinem Ärger Luft gemacht, fühlte mich befreit und hatte auch meine Schlagfertigkeit wiedergefunden. Nun musste ich diesen Zustand nur beibehalten.

      Beschwingt nahm ich die Zeitungen vom Tresen und versuchte darauf zu achten, die Manschetten meiner cremefarbenen Bluse nicht mit Druckerschwärze zu versauen.

      »Tja«, machte eine tiefe Stimme hinter mir und ich schaffte es, nicht zusammenzuzucken, obwohl mein Herz einen gewaltigen Satz machte. »Bei Ihnen möchte ich kein Schüler sein, Miss Crumb«, meinte Mr Reed fast tadelnd und ich drehte mich mit einem Mal zu ihm um.

      Ich sah nicht sonderlich elegant aus mit dem Stapel Papier auf dem Arm, aber wenigstens fiel mir sofort etwas ein, was ich ihm antworten konnte.

      »Vielleicht hätten Ihre Manieren das aber nötig«, gab ich schroff zurück, strafte ihn mit einem kurzen, strengen Blick, machte einen höflichen Knicks und ließ ihn dann mit den Büchern zurück, die er auf dem Tresen abgelegt hatte.

      Ihm schien so schnell wohl nichts Passendes eingefallen zu sein, denn er sah mir nur überrascht hinterher und ich machte mich nun gut gelaunt daran, die neuen Zeitungen in die Holzverspannungen einzufädeln.

      Jetzt fühlte ich mich voller Tatendrang, stellte die Zeitungen in den Ständer zurück und schnappte mir die alten, um einen Blick ins Archiv zu werfen.

      Es tat gut, Kontra zu geben, den Ärger nicht immer runterzuschlucken und ich fühlte mich beinahe euphorisch.

      Jedoch schwand meine Hochstimmung sehr schnell wieder, als ich die steinernen Treppenstufen nach unten ins Archiv stieg. Ich trug eine Laterne bei mir, die ich oben an einem Haken gefunden hatte, und trotzdem wurde das Licht scheinbar von den Wänden verschluckt und verwandelte alles in düstere, tanzende Schatten.

      Die Treppe endete so abrupt, dass ich in Erwartung weiterer Stufen beinahe hingefallen wäre. Es war ein ekliges Gefühl, mit vor Schreck rasendem Herzen im Halbdunkel zu stehen und kein anderes Geräusch zu hören als den eigenen Atem.

      Ich räusperte mich, richtete mich auf und hielt die Laterne in die Luft. Vor mir führte ein Türbogen in ein weites Gewölbe und ich schlich vorwärts, die alten Zeitungen an meine Brust gepresst, in der beständigen Hoffnung, hier unten niemandem zu begegnen. Denn eine Person, die aus den Schatten auftauchte, würde mein Herz nicht verkraften.

      Ein gespenstischer Luftzug bewegte meinen Rock, streichelte meine Wange und ich quietschte erschrocken auf, obwohl gar nichts geschehen war. Ich verspürte den Drang, mich zu bekreuzigen, um das Böse abzuwehren, obgleich ich eine Frau der Wissenschaft war und an böse Geister überhaupt nicht glaubte. Leider hatte ich die Hände voll und zwang mich selbst, weiter in den stockfinsteren Raum zu treten.

      Sei nicht so ein Angsthase, ermahnte ich mich und traute mich doch nicht, einen Mucks zu machen.

      Ich versuchte die Laterne weiter vor mich zu halten, um besser sehen zu können, als das Licht sich plötzlich in einem glatten Gegenstand


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