Animant Crumbs Staubchronik. Lin Rina

Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina


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nach London fahren! Und das ist mein letztes Wort!«

      Das Zweite oder das, in dem mein Lesesessel nach London zog.

      Ich saß in der Kutsche nach London und klammerte mich an meine Handschuhe, die ich zwischen den Fingern hielt und immer wieder über das glatte Leder strich, um mich selbst zu beruhigen. Draußen zog die Landschaft vorbei, gelbe Stoppelfelder, bunte Bäume, die bereits begannen, ihre Blätter zu verlieren. Draußen bot sich mir eine traumhafte Spätherbstlandschaft, die ich leider in diesem Moment nicht so richtig schätzen konnte.

      Ich war auf dem Weg nach London. Kaum zu fassen. Mutter war dagegen gewesen, hatte gezetert und geschimpft, bis Vater sie beiseitenahm und anschließend mit ihr und Onkel Alfred im Salon verschwunden war.

      Nur einen winzigen Moment hatte ich es dann noch auf meinem Stuhl im Esszimmer ausgehalten, bis ich aufgesprungen und ihnen hinterhergeeilt war, um an der geschlossenen Tür zu lauschen.

      »Stell dir vor, welche Möglichkeiten sich dort auftun könnten. Wie viele Menschen ihr dort begegnen werden«, sagte Vater und Mutter fiel ihm ins Wort.

      »Aber Charles«, begann sie weinerlich und ich wusste, welchen Blick sie jetzt aufgesetzt hatte. Diesen flehenden, von schräg unten, mit dem sie Vater immer weichkochte.

      Doch diesmal schien er sich davon nicht einwickeln zu lassen. »Charlotte, Gesellschaften mit den Großen Londons, vielleicht sogar Bälle am Königshof. Junge Männer mit Rang und Namen, Grips und Witz. Einen Monat, Darling, und ihr wird der Kopf schwirren von all den nennenswerten Verehrern, zwischen denen sie sich entscheiden muss!«

      Ich schnappte erschrocken nach Luft. War dieser Vorschlag wirklich von meinem Vater gekommen? Wann hatte er sich in dieser Angelegenheit denn so sehr auf die Seite meiner Mutter geschlagen? Ich wusste nicht, ob ich empört oder geschockt sein sollte.

      Auch Mutter schien es die Sprache verschlagen zu haben, denn es kam kein Ton von ihr.

      »Ihr müsst es ja auch niemandem sagen. Wir behaupten einfach, ich nehme sie als Gesellschaft für Lillian mit. Damit sie nicht den ganzen Tag allein ist, wenn ich die nächsten Wochen so viel zu tun habe. Wer würde es schon hinterfragen, wenn Animant ihren Onkel in London besuchen käme«, gab Onkel Alfred zu bedenken. »Und dann gibt es ja auch immer noch Henry. Er wird sich freuen, seine Schwester zu sehen.«

      Ich hörte Mutter seufzen. Es war ein ergebenes Seufzen, eines, das mir sagte, dass Vater und Onkel Alfred gewonnen hatten und sie mir erlauben würde, nach London zu fahren. »Einen Monat!«, erwiderte sie streng. »Und das auch nur, wenn sie es einen Monat aushält. Was ich schwer bezweifle.«

      Ich nahm das Ohr von der Tür, trat einige Schritte zurück und setzte mich vorsichtig auf die unteren Stufen der Treppe.

      Denn jetzt war es an der Zeit, mir zu überlegen, was ich eigentlich wollte. Wollte ich nach London und die Assistentin eines verschrobenen Bibliothekars werden? War die Aussicht auf ein wenig Freiheit genug, um mich aus meiner täglichen Routine zu reißen und in eine andere Stadt zu fahren?

      Die Gesellschaften würden mich ganz sicher nicht reizen und auch die Erwähnung der vielen Gesprächspartner, die ich abzuwimmeln hätte, stimmte mich nicht gerade euphorisch.

      Doch andersherum gab mir der Gedanke, abzulehnen und hierzubleiben, einen Stich, der direkt auf meinen Stolz abzielte. Mutter hatte behauptet, ich würde es keinen Monat dort aushalten. Sie hielt mich für naiv und unerfahren, weil ich mich bisher nie beweisen musste und weil alle in mir noch das arme, weiche Kind sahen. Wenn ich ablehnte, würde ich ihnen recht geben und das könnte mein Stolz nicht ertragen.

      Also hatte ich zusagen müssen und den verkniffenen Gesichtsausdruck meiner Mutter genossen, die insgeheim gehofft hatte, dass ich mich gegen London und für ihre Gesellschaft entscheiden würde. Doch darauf konnte sie lange hoffen.

      Es dauerte zwei Tage, bis ich alles gepackt hatte und Mutter mit meiner Kleiderauswahl ebenfalls zufrieden war. Onkel Alfred blieb und bewohnte unser Gästezimmer, war tagsüber aber die ganze Zeit mit Vater unterwegs, sodass sich keine Gelegenheit bot, ihn über London und die Bibliothek auszufragen.

      Über uns rumpelte es und Onkel Alfred schreckte aus seinem Halbschlaf auf. »Was war das?«, wollte er schlaftrunken wissen und ich kniff die Lippen nervös zu einem schmalen Strich zusammen.

      »Sicher nur mein Sessel«, gab ich zurück und Onkel Alfred schüttelte den Kopf, während er sich an seinem Bart kratzte.

      »Wieso musstest du das alte Ding auch mitschleppen?«, meinte er, doch ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

      »Er gehört nun mal zu mir. Und ich wäre doch auch sicher eine Schande für all meine Vorfahren, wenn ich nicht auch ein bisschen exzentrisch wäre«, warf ich selbstsicher ein und Onkel Alfred lachte laut.

      »Da hast du recht, Ani! Wie so oft«, grölte er und ich lächelte.

      Die Familie Crumb hatte schon eine Menge Exzentriker hervorgebracht und wenn ich mir die Stammbäume anderer Familien besah, waren es auffällig viele. Meine Großtante Rose hatte eine Vorliebe für übergroße Hüte, mein Cousin dritten Grades war ein Mann mit dem Talent, Geschichten zu erzählen, ohne jemals das Ende zu verraten, und mein Großvater hatte immer behauptet, seine eigene Mutter wäre Admiral bei der Marine gewesen.

      Im Gegensatz dazu war es ja fast schon harmlos, dass ich mit einem Sessel verreiste.

      Wir machten zwei Pausen auf unserer Reise. Einmal, um in einem wunderschönen kleinen Gasthaus zu Mittag zu essen und einmal für den Fünfuhrtee.

      Onkel Alfred erzählte viel über seine letzte Reise nach Europa, über Lillians Begeisterung für deutsches Brot und dass es eine ganz tolle Zeit in London werden würde.

      Doch egal, wie geschickt ich es anstellte, das Thema auf die Bibliothek, meinen neuen Job oder diesen ominösen Bibliothekar zu lenken, Onkel Alfred schaffte es immer irgendwie, sich wieder herauszuwinden, und nach dem achten Versuch gab ich schließlich auf.

      Er wollte mir offensichtlich nichts darüber erzählen und das machte mich nervös und neugierig zugleich. Doch er versprach, sich gleich morgen früh darum zu kümmern, dass alles offiziell in die Wege geleitet wurde. Und damit würde ich mich wohl zufriedengeben müssen. Vorerst.

      Wir erreichten London kurz nach Sonnenuntergang und ich konnte nur wenig erkennen auf den dunklen Straßen, die nur selten von einer Laterne beleuchtet wurden, da die Laternenanzünder ihre Runden wohl noch nicht beendet hatten. Erst als wir ins Zentrum fuhren und dem Gelände der Universität näher kamen, wurden die Straßen breiter und heller und ich konnte die düsteren hohen Häuser bewundern, die sich so eng aneinanderschmiegten, als ob sich so die Kälte besser aushalten ließ.

      Natürlich war ich nicht das erste Mal in London, aber das erste Mal ohne meine Eltern, und obwohl die Luft nicht so frisch war wie bei uns auf dem Land, roch sie für mich nach Freiheit und unendlich vielen neuen Möglichkeiten.

      Tante Lillian empfing uns an der Tür, als wir mit steifen Gelenken aus der Kutsche kletterten, und lachte überrascht, als sie mich erblickte.

      »Animant!«, rief sie freudig und schloss mich in ihre Arme, als ich die drei Stufen zur Haustür hinaufgestiegen war und zu ihr in den warmen Flur trat.

      In London war es wirklich bitterkalt, sodass man den Eindruck hatte, der Winter wäre hier schon sehr viel näher als bei uns.

      »Wie kommen wir zu der Ehre?«, wollte sie wissen und ihre schmalen Augen wurden von Lachfältchen umzogen. Sie hielt mich eine Armlänge von sich und musterte mich eingehend.

      »Onkel Alfred möchte mich als Bibliothekarsassistentin auf Probe einstellen«, antwortete ich frei heraus und ihre Augen wurden erst groß, dann zornig.

      »Du willst sie diesem Scheusal zum Fraß vorwerfen?«, rief sie empört, als ihr Mann durch die Tür kam, und stemmte ihre dünnen Ärmchen in die schmale


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