Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau


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hassen, vor allem aber fürchten mußte?

      »Vielleicht – weil er von altem Adel und reich ist?« höhnte der Tagedieb.

      Von nun an Umstände zu entdecken, die Cocoleus Beteuerungen unterstützen könnten, bedurfte es nur eines Schritts, und der war bald gemacht. Alsbald bildeten sich Gruppen, unter welchen eine Frau und zwei Männer zu verstehen gaben, daß man sich vielleicht nicht wenig wundern würde, wenn sie alles erzählten, was sie wüßten.

      Man drängte sie, zu erzählen; und, wie das selbstverständlich, weigerten sie sich jetzt. Aber schon hatten sie zuviel gesagt. Wohl oder übel wurden sie in das Haus geführt, wo soeben Herr Galpin-Daveline den Grafen von Claudieuse verhörte.

      So groß war die Aufregung der Menge und der Lärm, mit dem sie daherkam, daß Herr Sénéchal, erschrocken und in der Befürchtung eines neuen Unglücksfalls, mit dem Ausruf an die Tür stürzte: »Was gibt es noch?«

      »Zeugen! Hier sind noch andere Zeugen!« riefen die Bauern.

      Herr Sénéchal wandte sich in das Innere der Stube und sagte, nachdem er einen Blick mit Herrn Daubigeon gewechselt, zum Richter:

      »Man bringt Ihnen neue Zeugen!«

      Ohne Zweifel verwünschte Herr Galpin-Daveline die Unterbrechung.

      Aber er kannte die Bauern gut genug, um zu wissen, daß es wichtig war, sofort aus ihrem guten Willen Nutzen zu ziehen, und daß er auf diesen verzichten müßte, wenn er ihrer scheuen Behutsamkeit Zeit ließe, die Oberhand zu gewinnen.

      »Wir werden später auf unsere Unterhaltung zurückkommen, Herr Graf ...« sagte er zu diesem.

      »Die Zeugen mögen eintreten«, antwortete er alsdann Herrn Sénéchal, »aber allein, einer nach dem andern.«

      Der erste, der vortrat, war der einzige Sohn eines wohlhabenden Pächters aus dem Flecken Bréchy, namens Ribot; ein großer Bursche von fünfundzwanzig Jahren mit breiten Schultern, kleinem Kopf, niedriger Stirn und mächtigen hochroten Ohren.

      Er hatte auf zwei Meilen Umkreis den Ruf eines unwiderstehlichen Verführers und war nicht wenig stolz darauf.

      »Was wißt Ihr zu sagen?« fuhr Herr Galpin-Daveline fort, nachdem er ihn nach seinem Vor- und Familiennamen und nach seinem Alter gefragt.

      Mit einer geckenhaften Miene, die so gut verstanden wurde, daß die Bauern in ein helles Gelächter ausbrachen, richtete Ribot sich keck empor: »Ich hatte am verflossenen Abend eine wichtige, sehr wichtige Angelegenheit jenseits des Schlosses von Boiscoran. Man erwartete mich; ich hatte mich verspätet. Ich nahm also den kürzesten Weg durch das Moor. Ich wußte, daß infolge der Regengüsse, die wir in den letzten Tagen hatten, die Gräben voll Wasser sein würden; aber für eine Angelegenheit wie die meinige findet man immer Mittel und Wege.«

      »Erspart Euch diese unnötigen Nebenumstände«, sprach der Untersuchungsrichter kurz.

      Der eitle Bursche schien über diese Einwendung mehr erstaunt als beleidigt.

      »Wie es dem Herrn Richter beliebt«, antwortete er. »Es war etwas nach acht Uhr, als ich bei den Teichen der Seille ankam. Sie waren dermaßen angeschwollen, daß das Wasser die Steine des Dammes um zwei Daumenhöhe überragte. Ich fragte mich eben, wie ich durchkommen sollte, ohne naß zu werden, als ich Herrn von Boiscoran von der entgegengesetzten Richtung herankommen sah.«

      »Seid Ihr sicher, daß er es war?«

      »Zum Teufel! Das will ich wohl meinen, da ich ihn gesprochen habe! ... Aber hört nur! Er schien die Nässe durchaus nicht zu fürchten. Ohne weiteres schlug er seine Hosen zurück, preßte sie in die breiten Schäfte seiner großen gelben Stiefel und ging hindurch. Da erst bemerkte er mich und schien erstaunt darüber. Ich aber war es nicht weniger als er. ›Wie? Sie sind es, unser Herr?‹ sagte ich ihm. – ›Ja‹, antwortete er mir, ›ich muß jemand in Bréchy sprechen.‹ Das war wohl möglich. Dennoch sagte ich ihm noch: ›Da haben Sie sich aber einen wunderlichen Weg gewählt‹; worauf er lachend antwortete: ›Ich wußte nicht, daß das Wasser ausgetreten war, und ich hoffte einige Wasservögel zu erlegen.‹ Mit diesen Worten zeigte er mir seine Flinte. Für den Augenblick fand ich nichts dabei, jetzt aber, nach allem, was sich zugetragen, kommt es mir seltsam vor ...«

      Diese ganze Aussage hatte Herr Galpin-Daveline Wort für Wort aufgeschrieben.

      »Wie war er gekleidet?« fragte er dann.

      »Warten Sie ein wenig – er trug hellgraue Hosen, ein Jackett aus kastanienbraunem Samt und einen Panama mit breiten Rändern.«

      Da begann Schreck und Unruhe sich in den Zügen des Grafen und der Gräfin, Herrn Daubigeons und selbst des Doktors Seignebos zu malen.

      Ein Umstand in der Aussage Ribots war es besonders, der sie frappierte. Er hatte gesehen, daß Herr von Boiscoran seine Beinkleider in die Stiefel hineinschob, um über den Damm zu gehen.

      »Ihr könnt Euch zurückziehen«, sagte Herr Galpin-Daveline zu Ribot. »Ein anderer Zeuge mag vortreten.«

      Dieser andere war ein alter Mann, nicht vom besten Ruf, der eine alte Hütte etwa eine halbe Meile von Valpinson bewohnte. Man nannte ihn »Vater Gaudry«.

      Sosehr der Bursche Ribot mit Selbstgefühl aufgetreten war, sosehr zeigte sich dieser Alte in seinen schmutzigen und übelriechenden Lumpen demütig und furchtsam.

      »Es mochte etwa elf Uhr abends sein«, begann er, nachdem er seinen Namen genannt, die Aussage, »da ging ich auf einem der kleinen Fußsteige durch das Gehölz von Rochepommier.«

      »Um Holz zu stehlen«, sprach der Richter in strengem Ton.

      »Um aller Heiligen willen!« jammerte der Alte, indem er die Hände faltete, »wie ist es möglich, so etwas zu sagen! Ich und Holz stehlen, ich! Nein, mein bester Herr, ich wollte nur im Innern des Waldes schlafen, um sicher beim ersten Sonnenstrahl zu erwachen und Pilze und Champignons zu suchen, die ich in Sauveterre verkaufe. So verfolgte ich meinen Weg, als ich plötzlich hinter mir die Schritte eines Menschen vernahm. Natürlich ergriff mich die Angst.«

      »Weil Ihr stehlen wolltet?«

      »O nein, mein guter Herr – aber es war Nacht, Sie verstehen. Genug also, ich versteckte mich hinter einem Baum, und fast zu gleicher Zeit sah ich Herrn von Boiscoran, den ich sehr gut kenne, vorbeigehen. Trotz der Dunkelheit bemerkte ich, daß er in großer Wut zu sein schien, denn er sprach ganz laut, er fluchte, er gestikulierte und riß von Zeit zu Zeit ganze Hände voll Blätter von den Ästen.«

      »Hatte er eine Flinte?«

      »Ja, mein Herr, denn eben die Flinte war es, die mich in Furcht versetzte. Ich hielt ihn für einen Jagdhüter.«

      Der dritte und letzte Zeuge war eine gute und geachtete Meierin, Frau Courtois, deren Meierei auf der anderen Seite des Gehölzes von Boiscoran lag.

      »Ich weiß nicht viel zu sagen«, erklärte sie, als sie befragt wurde, nach kurzem Zögern. »Aber was ich weiß, will ich immerhin angeben. Da wir in diesen Tagen eine Menge Handwerker erwarten und ich morgen Brot backen wollte, war ich mit meinem Esel nach der Mühle am Berge von Sauveterre gegangen, um Mehl zu kaufen. Es war im Augenblick keines vorhanden, aber der Müller sagte mir, er könnte mir welches geben, wenn ich warten wollte, und ich blieb deshalb zum Abendessen dort. Gegen zehn Uhr lieferte man mir einen Sack Mehl aus, den die Burschen auf meinem Esel befestigten, und ich machte mich auf


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