Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
bin ich auf der Straße angeredet«, begann Lisbeth Wendhagen, ihr kleines, sommersprossiges Gesicht mit den hellen Augenwimpern belebte sich ordentlich. »Es war schauderhaft!«
»Möchtest Du noch Kaffee, Lisbeth?«
»Nein, danke – eins, zwei, drei … Habe ich mich doch wieder verzählt! Das infame Muster! So. – Also ich – natürlich – gehe immer schneller – er neben mir her …«
»Wie grässlich!«
»Was hat er denn zu Dir gesagt?«
»Ach, das kann ich gar nicht wiedererzählen.« Endlich fasse ich Mut und sage: »Mein Herr, Sie irren sich!«
»Man soll gar nicht antworten!«
»Ich darf abends nicht allein ausgehen!«
»Ach manchmal ist es sehr amüsant – wisst Ihr noch, wenn wir als Schulmädchen auf der Breitenstraße bummelten und die Gymnasiasten kamen?«
»Aber was wurde denn? Erzähle doch weiter«, riefen ungeduldige Stimmen.
»Ich kam nach Haus – klingelte – in Schweiß gebadet! Denkt Euch – der Kerl! – Antwortet mir: nein, mein Fräulein, ich irre mich nicht! Was sagt Ihr dazu!?«
»Mich hat mal einer draußen auf den Glacis angeredet«, rief Eugenie. »Es war ein Herr, das sah ich gleich. Wisst Ihr, was ich geantwortet habe? – Ich würde ihm für seine Begleitung sehr dankbar sein! – Habe mich ganz gut mit ihm unterhalten, und er hat mich richtig bis vor die Haustür gebracht! Am anderen Morgen bekam ich anonym ein Bouquet zugeschickt!«
»Nein diese Eugenie! Du bist doch ein freches Tier! – Ach Schlagsahne! – An der könnt’ ich mich tot essen!«
»Na – Gott segne Deine Studia!«
»Überfriss Dich nur nicht vor dem Juristenball!«
»Unser Tanzfest soll gleich hinterher sein«, schrie Eugenie. »Kinder – ich freue mich ja diebisch! Wir haben auch Deinen Vetter Martin eingeladen, Agathe! Wie sie selig ist …!«
»Es ist nicht wahr – ich interessiere mich gar nicht für ihn!«
»Kindchen, Kindchen, tu’ doch nicht so! Das kann ich nicht ausstehn!«
»Ach Du lieber Himmel, ob mich wohl Referendar Sonnenstrahl zum Kotillon engagiert?« seufzte Lisbeth. »Er hat so ’nen himmlischen Schnurrbart!«
»Ich finde den von Lieutenant Bieberitz viel schöner, Dein Sonnenstrahl hat ja krumme Beine.«
»Und Dein Lieutenant Bieberitz trägt ein Korsett!«
»Wie kannst Du so etwas behaupten?«
»Ich weiß es ganz bestimmt von unserer Schneiderin. Bei deren Mutter ist er in Logis.«
»Habt Ihr die Trine?«
»Zu uns darf sie nicht mehr kommen! Sie klatscht zu grässlich! Was die für Geschichten weiß! Scheußlich!«
»Erzähle – erzähle!«
»Nein – ich schäme mich.«
»Raus – raus mit der Sprache! Na –«
»Denkt nur, der alte verheiratete Tademir … Ach – Frau Regierungsrat …!«
»Nun, meine lieben Mädchen, amüsiert Ihr Euch? Agathe, bist Du eine aufmerksame Wirtin? Wie geht es zu Haus?«
»Danke, Frau Regierungsrätin!«
»Agathchen darf doch auf unsern Lämmersprung kommen, Frau Regierungsrätin?«
»Ach, Frau Regierungsrat – wie können Sie nur so etwas sagen – Sie genieren uns doch nicht …«
Andere Stimmen – andere Bewegungen – wohlerzogene Knixe – lächelnde, beruhigte Gesichter – wenn sie auch von dem heftigen Durcheinanderschreien noch in lebhaftem Rosenrot glühten – das stand ihnen gut zu den friedlich auf die Handarbeit gesenkten Augen.
Man sprach von Holzmalerei, von dem letzten Buch einer beliebten Jugendschriftstellerin.
Es waren doch nette Mädchen, Agathes Freundinnen. Eugenie allein erregte Frau Heidling Verdacht. Man munkelte etwas Unbestimmtes von einer dummen Liebesgeschichte, um derentwillen sie aus dem Haus geschickt worden sei. Gewiss nur eine von den gehässigen Nachreden, wie sie hübsche Mädchen so gern verfolgen. Die Regierungsrätin musste sich gestehen, dass sie noch nichts Bedenkliches hatte an Eugenie entdecken können. Das Mädchen besaß weit bessere Formen, als ihre Mutter, von dem alten Wutrow gar nicht zu reden.
1 Wimpffen=Adelsgeschlecht <<<
VI.
In dem Leitfaden fürs Leben: »Des Weibes Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter« stand zu lesen: Der erste Ball bedeute einen der schönsten Tage im Dasein eines jungen Mädchens. Alle Empfindungen, die das kleine, unter dem Tarlatan hüpfende Herzchen bei den Klängen der Tanzmusik selig durchschauern sollten, waren eingehend geschildert – ja, die Verfasserin verstieg sich in ihrer Beschreibung dieser wichtigsten Jugendfreuden zu einer wahrhaft dithyrambischen Sprache.
Aber nicht nur die aus dem Tempel der Poesie herabtönende Orakelstimme – auch die Präsidentin Dürnheim und die anderen Bekannten von Mama – spitze, hagere Rätinnen und schwere, verfettete Rätinnen, liebenswürdige, geistreiche Rätinnen, und einfache Rätinnen, Rätinnen vom Gericht und von der Regierung und unverheiratete, die sich nur zu Familienrätinnen hatten aufschwingen können – sie alle klopften der kleinen Heidling die Wange oder nickten ihr zu: der erste Ball –! So ein glückliches Kind! Ach ja, der erste Ball! – dass man auch einmal so schlank und froh und morgenfrisch seinem ersten Ball entgegensah …
Es ist also wahr! Der erste Ball muss etwas unerhört Bezauberndes sein.
Agathe hatte ja auch ein wunderhübsches Kleid bekommen. Nur lange Handschuhe wollte die Mama nicht spendieren – in ihrer Zeit trugen die jungen Mädchen niemals so lange Handschuhe, wie sie jetzt Mode waren. Mama begann neuerdings so ängstlich zu sparen – seit Walter sich entschlossen hatte, Offizier zu werden. Die Eltern mussten ihm alle Augenblicke dreihundert Mark schicken – das war freilich schlimm! Aber Eugenie hatte wunderbare Handschuhe – bis an die Ellenbogen – und kaufte sich gleich mehrere Paar, falls eins davon einen Riss bekäme. Es war ordentlich eine Qual, dass Agathe fortwährend an die Handschuhe denken musste. Dabei gab es soviel anderes, was sie hätte mehr beschäftigen sollen. Z. B. ob sie sich verlieben würde?