Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
und sie könnten sich von dem Verlust nicht erholen.
Fast alle waren sie jung, auf der Sommerhöhe des Lebens. Und sie teilten sich in zwei ungefähr gleiche Teile: die von den Anforderungen des Gatten, von den Pflichten der Geselligkeit und den Geburten der Kinder erschöpften Ehefrauen und die bleichen, vom Nichtstun, von Sehnsucht und Enttäuschung verzehrten Mädchen.
Männer besuchten den Ort nur selten. Ein hysterischer Künstler war jetzt anwesend, ein Oberst a. D., der seine Frau nie allein reisen ließ, und der Arzt.
Um die beiden ersten bekümmerte man sich nicht sehr viel. Aber der Arzt! – Was Dr. Ellrich gesagt hatte, in welcher Stimmung er sich befand, was er für einen Charakter besaß, das bildete den Gesprächsstoff in der Frühe am Brunnen, bei der Mittagstafel und bei den Reunions des Abends. Manche hielten ihn für einen Dämon, andere für einen Engel. Zwanzig Damen fanden, es sei unerhört, wie frei zwanzig andere sich im Verkehr mit ihm benahmen, und ein Dutzend weitere erklärten jene ersten für heimtückisch kokett und berechnend dem Doktor gegenüber. Die junge Frau eines Bankiers wollte sich um seinetwillen scheiden lassen, aber es war ja nicht daran zu denken, dass er die heiraten würde, er wusste doch am besten, wie krank die war.
Ein höchst aufregender Augenblick entstand, sobald er abends in den Kursaal trat und man nicht wusste, zu welcher Gruppe er sich gesellen würde. Es mochte ja töricht sein – lächerlich – aber es blieb nun einmal ein Ehrenpunkt, den Doktor an seinem Tisch zu haben. In dieser engen Gemeinschaft, wo das Interesse sich auf so wenige Punkte konzentrierte, unter dem Einfluss der aufregenden Bäder, der scharfen Höhenluft bekam jede Stimmung, jedes Gefühl, jeder Einfall in den Seelen, deren Gleichgewicht schon krankhaft gestört war, eine unnatürlich gesteigerte Bedeutung und wirkte mit gefährlicher Ansteckungskraft. Sie erwarteten alle so viel von diesem Doktor, Gesundheit, Frohsinn, Mut und Lebenshoffnung sollte er jeder einzelnen zurückgeben. Da musste man ihm doch ein wenig den Hof machen.
»Dieser Doktor ist mir widerwärtig«, erklärte Agathe schon nach der ersten Sprechstunde. Wie eine Sensitive erzitterte sie unter seinen scharfen Augen.
Eugenie fand ihn amüsant. »Ein bisschen rücksichtslos und frech – aber – na – sonst kommt er wohl hier nicht durch.«
Wie sie beobachtet wurden, als er sich abends zu ihnen setzte. Lisbeth Wendhagen kam auch gleich vom anderen Ende des Saales hergelaufen. Natürlich kokettierte Eugenie mit ihm – es war ja hier Mode, und sie war zu jeder neuen Mode Bereit. Pfui – pfui – ekelhaft.
So einen cynischen Zug hatte dieser Doktor Ellrich am Mundwinkel. Der durchschaute die Frauen ganz und gar – er verachtete sie … Die frivolen Witze und Andeutungen, die er mit Eugenie über die anderen Patientinnen tauschte! Wahrscheinlich hinter dem Rücken auch über sie. Vor dem musste man sich in acht nehmen – der meinte es nicht gut – – Nur fort – fort von hier … Ein Ort, ein dunkler, stiller Winkel, dahin die Stimmen sie nicht verfolgten, – dahin keine Farbe, kein Licht und kein Klang dringen konnte. Dort sich verbergen und schlafen – schlafen – traumlos schlafen …
*
Seit Eugenie sie überwachte, durfte sie die Nächte nicht mehr auf einem Stuhl zusammengekauert sitzen und ins Dunkle starren. Aber sie schlief doch nicht. Immerfort musste sie grübeln, wie sie Eugenie und dem Doktor und all den vielen Frauen, die sie neugierig beobachteten, entfliehen konnte.
Dabei dies Tönen und Dröhnen – als würde eine große Kirchenglocke unablässig in ihrem Kopfe geschwungen.
Das störte sie ja im Denken – sie kam und kam nicht ins Klare. Und es musste doch etwas geschehen – sehr schnell …
Ehe Martin abreiste, hatte er zu ihr gesagt: sollte sie noch den Wunsch haben, in der Schweiz zu bleiben, so ändere das Geschehene nicht im mindesten seine Bereitwilligkeit, ihr zu helfen.
Seine Haltung war gezwungen gewesen und sein Ton kühl.
Sie hatte ihm keine Antwort gegeben.
Siedend heiß wurde es ihr, dachte sie daran. Nur nie – nie ihn wiedersehn …
Wenn sie doch zu ihm ginge? Heimlich, ganz heimlich?
Sie musste ihm beweisen, dass sie nicht so erbärmlich war, wie er glaubte.
Sich rechtfertigen … Das war nun nicht mehr möglich.
Ihm helfen in stiller, harter Arbeit … Jawohl! Er würde sie doch nur für zudringlich halten.
Und bei diesem rasenden Abscheu, Ekel und Hass … Es konnte wieder über sie kommen, so wie an dem Abend … Sie – sie – und noch etwas wollen? Etwas, wozu Selbstvertrauen und Kraft gehörte … Sich verkriechen, sich verstecken, wo kein Mensch sie sah und hörte – wo sie keinen in ihrer Nähe fühlte – –
*
Nein – sie wollte nichts mehr, als still bei Papa bleiben – sie wollte gewiss nicht wieder an das alte gewohnte Joch rühren.
Sie hatte es nun gesehen, dass sie in der reinen Luft der Höhen nicht atmen konnte. Sie war nicht für die Bergesgipfel geschaffen – sie erstickte einfach dort.
Freilich die Männer … die nahmen sich auch auf die Höhen mit hinauf, was sie mochten, was ihnen angenehm schien – nur sie – sie sollte da in Eis und Schnee erstarren. Im Grunde war es also gleichgültig, ob sie unten saß oder mit Gefahr ihres Lebens an den Felsenhängen der Wahrheit und der Freiheit hinaufzuklimmen versuchte – für die Mädchen blieb sich die Sache ziemlich gleich – Entsagung überall. Da – da – da traf sie ihn wieder – den großen Betrug, den sie alle an ihr verübt hatten – Papa und Mama und die Verwandten und Freundinnen und die Lehrer und Prediger … Liebe, Liebe, Liebe sollte ihr ganzes Leben sein – nichts als Liebe ihres Daseins Zweck und Ziel …
… Das Weib, die Mutter künftiger Geschlechter … Die Wurzel, die den Baum der Menschheit trägt …
Ja – aber erhebt ein Mädchen nur die Hand, will sie nur einmal trinken aus dem Becher, den man ihr von Kindheit an fortwährend lockend an die Lippen hält – zeigt sich auch nur, dass sie durstig ist … Schmach und Schande! Sünde – schamlose Sünde – erbärmliche Schwäche – hysterische Verrücktheit! schreit man ihr entgegen – bei den Strengen wie bei den Milden, den Alten und den Jungen, den Frommen und den Freien.
*
Sie hatte gezeigt, dass sie durstig war, und sich damit des einzigen Menschen beraubt, der sie hätte retten können.
Und sie sehnte sich so sehr nach ihm.
Sie wollte doch zu ihm