Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Es stimm­te sie trau­rig. Ihre jun­ge Mäd­chen­fan­ta­sie wur­de be­wegt von un­be­stimm­ten Wün­schen nach Grö­ße und Er­ha­ben­heit. Sie dach­te gern an die Fer­ne – die Wei­te – die gren­zen­lo­se Frei­heit, wäh­rend sie an dem klei­nen Teich auf dem win­zi­gen Bänk­chen saß und sich ganz ru­hig ver­hal­ten muss­te, da­mit sie nicht um­schlug und da­mit die Bank nicht zer­brach, denn sie war auch schon recht morsch.

      Plötz­lich fiel Aga­the die Beich­te wie­der ein, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und ih­rem Seel­sor­ger über­ge­ben müs­sen. Ihre Halb­heit und Unauf­rich­tig­keit … und nun wur­de es ihr zur Ge­wiss­heit, die Schuld des Un­frie­dens, der die­sen hei­li­gen Tag stör­te, lag in ihr sel­ber. Scham­voll be­küm­mert starr­te sie in das Was­ser, das auf der Ober­flä­che so klar und mit fröh­li­chen, klei­nen gol­de­nen Son­nen­blit­zen ge­schmückt er­schi­en und tief un­ten an­ge­füllt war mit den fau­len­den Über­res­ten der Ve­ge­ta­ti­on ver­gan­ge­ner Jah­re.

      II.

      Die Freund­schaft zwi­schen Aga­the Heid­ling und Eu­ge­nie Wu­trow be­stand schon sehr lan­ge – seit­dem sie ei­nes Mor­gens mit wei­ßen Schürz­chen und neu­en Ta­feln und Fi­bel­bü­chern zum ers­ten Mal in die Schu­le ge­bracht wur­den und ihre Plät­ze ne­ben­ein­an­der an­ge­wie­sen be­ka­men. Da hat­ten sie die Bon­bons aus ih­ren Zucker­dü­ten ge­tauscht, und nun wa­ren sie Freun­din­nen. Ihre bei­den Ma­mas schick­ten sie in die­se klei­ne vor­neh­me Pri­vat­schu­le, denn in der staat­li­chen hö­he­ren Töchter­schu­le ka­men doch im­mer­hin Kin­der von al­ler­lei Leu­ten zu­sam­men, und sie konn­ten leicht ein häss­li­ches Wort oder ge­wöhn­li­che Ma­nie­ren mit nach Haus brin­gen.

      Ent­we­der hol­te Aga­the die klei­ne Wu­trow zum Schul­weg ab, oder Eu­ge­nie klin­gel­te um drei­vier­tel auf acht Uhr bei Heid­lings, wozu sie sich auf die Ze­hen stel­len muss­te, bis Mama Heid­ling ein Strick­chen an den gel­ben Mes­sin­g­ring des Glo­cken­zu­ges band. Auch in ih­ren Frei­stun­den steck­ten die Mä­del­chen be­stän­dig zu­sam­men. Am liebs­ten war Aga­the bei Eu­ge­nie, dort blie­ben sie un­ge­stör­ter mit ih­ren Pup­pen und Bild­chen und Sei­den­flöck­chen, mit ih­ren Ge­heim­nis­sen und ih­rem end­lo­sen Ge­zwit­scher und Ge­ki­cher.

      Das große alte Kauf­manns­haus, wel­ches Eu­ge­nies El­tern ge­hör­te, barg eine Un­men­ge von Ecken und Win­keln, köst­lich zum Spie­len und um sich zu ver­ste­cken. Dunkle Kor­ri­do­re gab es da, in de­nen auch bei Tage ein­sa­me Gas­flam­men brann­ten und dünn­bei­ni­ge Kom­mis ei­lig an den klei­nen Mäd­chen vor­über­stri­chen – hin­ter ver­git­ter­ten, stau­bi­gen Fens­tern das Komp­toir, und dar­in saß Herr Wu­trow, ein ver­schrumpf­tes, tau­bes, gro­bes Männ­chen, auf ei­nem ho­hen Dreh­stuhl – ein Hof mit un­ge­heu­ren lee­ren Kis­ten und graue, schmut­zi­ge Hin­ter­ge­bäu­de, an­ge­füllt mit ei­ner Schar Ar­bei­ter und Ar­bei­te­rin­nen, die in kah­len Räu­men Zi­gar­ren dreh­ten. Die Fa­brik – das Komp­toir – die Kor­ri­do­re – al­les roch nach Ta­bak. Der süß­lich-schar­fe Ge­ruch drang so­gar bis in die großen Wohn­zim­mer des Vor­der­hau­ses. Hier ließ Frau Wu­trow be­stän­dig das Par­quett boh­nern und die Spie­gel­schei­ben der Fens­ter put­zen, des­halb war es im­mer kalt und zu­gig. Aber der Ta­baks­ge­ruch blieb trotz­dem haf­ten.

      Auf Aga­the übte das Haus, in dem al­les ganz an­ders war als bei ih­ren El­tern, eine ge­heim­nis­vol­le An­zie­hung aus. Sie fürch­te­te sich vor den Kom­mis und den Ar­bei­te­rin­nen und noch mehr vor Herrn Wu­trow selbst, sie hat­te eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen Frau Wu­trow, und mit Eu­ge­nie zank­te sie sich sehr oft, lief dann schluch­zend nach Haus und hass­te ihre Freun­din. Aber Eu­ge­nie hol­te sie im­mer wie­der, und al­les blieb wie zu­vor. Eu­ge­nie konn­te nie­mals or­dent­lich spie­len. Sie hat­te ihre Pup­pen nicht wirk­lich lieb und glaub­te nicht, dass es eine Pup­pen­spra­che gäbe, in der Hol­de­wi­na, die große mit dem Por­zel­lan­kopf, und Käth­chen, das Wi­ckel­kind, mun­ter zu plau­dern be­gan­nen, so­bald ihre klei­nen Müt­ter au­ßer Hör­wei­te wa­ren.

      Aga­the ver­dank­te ih­rer Freun­din ver­schie­de­ne Straf­pre­dig­ten, weil Eu­ge­nie sie ver­führ­te, mit ihr in al­ler­lei Ne­ben­gas­sen der Stadt her­um­zu­bum­meln, an den Klin­geln zu rei­ßen und dann fort­zu­lau­fen, al­ten Da­men, die an Par­ter­re­fens­tern hin­ter Blu­men­töp­fen sa­ßen, die Zun­ge her­aus­zu­ste­cken und sich mit Schul­jun­gen zu un­ter­hal­ten.

      Am liebs­ten hielt Eu­ge­nie sich in der Fa­brik auf. Sie schlich sich an die Män­ner her­an und strei­chel­te die schmut­zi­gen Rö­cke der Ar­bei­te­rin­nen und steck­te ih­nen Ku­chen und Äp­fel zu, die sie heim­lich aus ih­rer Mut­ter Spei­se­kam­mer hol­te, da­mit die Mäd­chen ihr da­für Ge­schich­ten er­zähl­ten. Be­stän­dig muss­ten die Auf­se­her sie fort­ja­gen – im Um­se­hen war sie wie­der da.

      Ja – und Eu­ge­nie wuss­te auch, dass Wal­ter eine Braut hät­te, mit der er sich küss­te, und wenn die Leh­rer das hör­ten, käme er vor die Kon­fe­renz. Meta Hil­le aus der drit­ten Klas­se wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz ge­wiss, wahr­haf­tig!!

      Hat­te Eu­ge­nie et­was Der­ar­ti­ges her­aus­ge­spürt, so schüt­tel­te sich ihr klei­nes, schlan­kes Kör­per­chen vor Ver­gnü­gen, sie kniff ihre grau­en Au­gen zu­sam­men und blin­zel­te tri­um­phie­rend über ihr hüb­sches Näs­chen hin­weg.

      Hei – das war fein!

      Ei­nes Sonn­tags Nach­mit­tags sa­ßen die klei­nen Freun­din­nen auf dem un­ters­ten Ast des nied­ri­gen al­ten Ta­xus­bau­mes in Wu­trows Gar­ten. Sie hiel­ten ihre Bat­ti­ströck­chen mit den Fin­ger­spit­zen und weh­ten da­mit hin und her, denn sie wa­ren von ei­ner bö­sen Fee in zwei Vö­gel ver­wan­delt und schüt­tel­ten nun ihr wei­ßes und ro­sen­ro­tes Ge­fie­der. Das Spiel hat­te Aga­the an­ge­ge­ben. Sie woll­te im­mer so ger­ne flie­gen ler­nen.

      Und dann wuss­ten sie nicht mehr, was sie an­fan­gen soll­ten, um den Sonn­tag Abend hin­zu­brin­gen.

      Arm in Arm gin­gen sie an den Bee­ten mit blü­hen­den Au­ri­keln oder Stief­müt­ter­chen, an ih­ren stei­fen Buchs­baum-Ein­fas­sun­gen ent­lang. Zwi­schen den Mau­ern der Hin­ter­häu­ser, die den alt­mo­di­schen, zier­lich ge­pfleg­ten Stadt­gar­ten ein­schlos­sen, wur­de es schon grau und däm­me­rig, wäh­rend hoch über den Kin­dern eine rosa Wol­ke am grün­li­chen April­him­mel lang­sam ver­blass­te.

      »Du«, flüs­ter­te Aga­the ganz lei­se, »es ist doch nicht wahr – das von den klei­nen Kin­dern … Mei­ne Mama …«

      »Pfui – ge­klatscht! Du Petz­lie­se!«

      »Nein – ich habe ja bloß ge­fragt!«

      »Ach, Dei­ne Mama … Müt­ter lü­gen ei­nem im­mer was vor!«

      »Mei­ne Mut­ter lügt nicht!« schrie Aga­the ge­kränkt.

      Aus dem Streit ent­spann sich ein heim­li­ches Tu­scheln und Flüs­tern zwi­schen den klei­nen Freun­din­nen. Aga­the rief ein paar­mal: »Pfui, Eu­ge­nie – ach nein, das glau­be ich nicht …«

      Hil­fe­schreie, die aus dem Abend­schat­ten un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo die klei­nen Mäd­chen zu­sam­men­kau­er­ten, her­vor­klan­gen, wie eine ge­ängs­te­te Vo­gel­stim­me, wenn die Kat­ze zum Nest schleicht. Und vor


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